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Gesicht des Zorns
Blake Pierce


Ein Zoe Prime Fall #5
“EIN MEISTERWERK DES THRILLER UND KRIMI-GENRES. Blake Pierce gelingt es hervorragend, Charaktere mit so gut beschriebenen psychologischen Facetten zu entwickeln, dass wir das Gefühl habe, in ihren Gedanken zu sein, ihre Ängste zu spüren und ihre Erfolge zu bejubeln. Dieses Buch voller Wendungen wird Sie bis zur letzten Seite wachhalten.“. –Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über Verschwunden). GESICHT DES ZORNS ist das fünfte Buch einer neuen FBI Thrillerserie des USA Today Bestsellerautors Blake Price, dessen Nummer 1 Bestseller Verschwunden (Buch 1) (kostenloser Download) über 1.000 Fünfsternebewertungen erhalten hat… FBI-Spezialagentin Zoe Prime leidet an einer seltenen Krankheit, die ihr auch ein einzigartiges Talent verleiht: Sie betrachtet die Welt durch einen Filter aus Zahlen. Die Zahlen quälen sie, machen es ihr unmöglich, Zugang zu anderen Menschen zu finden, verhindern ein erfolgreiches Beziehungsleben – sie ermöglichen ihr aber auch, Muster zu sehen, die kein anderer FBI Agent sehen kann. Zoe verheimlicht ihr Leiden aus Scham und hat Angst, dass ihre Kollegen es herausfinden könnten… In GESICHT DES ZORNS werden Frauen tot aufgefunden, die offensichtlich Opfer eines Serienmörders geworden sind, der mysteriöse Symbole in ihre Körper ritzt. Das Symbol hat eine gewisse mathematische Bedeutung und Zoe versucht krampfhaft herauszufinden, ob der Mörder in der seine Opfer nach der Pi Zahlenfolge tötet… Doch als ihre Theorie sich als falsch erweist, stellt Zoe alles, was sie bisher zu wissen glaubte, in Frage… Ist Zoe mit ihrem Talent an eine Grenze gestoßen? Oder kann sie das nächste Opfer doch noch rechtzeitig retten?. GESICHT DES ZORNS ist das fünfte Buch einer fesselnden Krimiserie und actionreicher Thriller voller mitreißender Spannung, der Sie bis spät in die Nacht an den Seiten kleben lassen wird..





Blake Pierce

GESICHT DES ZORNS




GESICHT




DES




ZORNS




(Ein Zoe Prime Fall—Buch Fünf)




B L A K EВ В  P I E R C E




Aus dem Amerikanischen von Tim Manzella



Blake Pierce

Blake Pierce ist die Autorin der RILEY-PAGE-Bestsellerreihe, die siebzehn Krimis um die FBI-Spezialagentin umfasst. Aus ihrer Feder stammt außerdem die vierzehnbändige MACKENZIE-WHITE- Krimiserie. Darüber hinaus sind von ihr die Krimis um AVERY BLACK (sechs Bände), KERI LOCKE (fünf Bände), die Krimiserie das MAKING OF RILEY PAIGE (sechs Bände), die KATE-WISE- Krimiserie (sieben Bände), die Psychothriller um JESSIE HUNT (vierzehn Bände), die Psychothriller-Trilogie AU PAIR, die ZOE-PRIME-Krimiserie (bislang fünf Bände), die neue Krimireihe um ADELE SHARP und die Cosy-Krimi-Reihe LONDON ROSES EUROPAREISE, deren erster Band hier vorliegt, erschienen.



Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan des Krimi- und Thriller-Genres freut sich Blake immer, von ihren Leserinnen und Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.








Copyright © 2020 von Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Acts von 1976 darf kein Teil dieser Veröffentlichung ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen, in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist ausschließlich für Ihre persönliche Nutzung lizensiert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer weiteren Person teilen möchten, erwerben Sie bitte eine zusätzliche Ausgabe für jeden Empfänger. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht erworben haben, oder es nicht ausschließlich für Ihren Gebrauch erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Ihre eigene Ausgabe. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Es handelt sich hier um eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle beruhen entweder auf der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebend oder tot, ist völlig zufällig. Titelbild Copyright Fernando Batista, verwendet mit Lizenz von Shuitterstock.com.



BГњCHER VON BLAKE PIERCE




LONDON ROSES EUROPAREISE

MORD (UND BAKLAVA) (Band #1)


ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Band #1)

NICHTS ALS RENNEN (Band #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Band #3)

NICHTS ALS TГ–TEN (Band #4)


DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORГњBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)


ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)

GESICHT DES WAHNSINNS (Band #4)

GESICHT DES ZORNS (Band #5)


JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LГ„CHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LГњGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)

DIE PERFEKTE AFFГ„RE (Band #7)

DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)

DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)


CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LГњGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETГ–NTE FENSTER (Band #6)


KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Band #1)

WENN SIE SГ„HE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Band #5)

WENN SIE FГњRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HГ–RTE (Band #7)


DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TГ–TET (Band #6)


RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ГњBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)

AUSERWГ„HLT (Band #17)


EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE


EINST GELГ–ST




MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FГњHLT (Band #6)

EHE ER SГњNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLГњNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFГ„LLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)

VORHER SCHADET ER (Band #14)


AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRГњNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)


KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




KAPITEL EINS


Zoe schloss die Augen und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Lehne des Sofas. Es machte sowieso keinen Unterschied. Vor ihrem Fenster war Bethesda in Dunkelheit gehüllt und sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, aufzustehen, um das Licht einzuschalten. Kleine, gelb leuchtende Punkte in der Skyline am Horizont zeigten ihr, dass Washington D.C. noch wach war – und sie war es leid, diese Punkte anzustarren.

Das war nicht mehr ihre Welt. Wenn sie dort hinschaute, sah sie überall bloß Zahlen: die Anzahl der Stockwerke jedes einzelnen Gebäudes und der Fenster pro Stockwerk, die Entfernung vom Boden, die Zeitspanne, die ein Objekt brauchen würde, um aus jedem beliebigen Fenster auf den Bürgersteig zu fallen. Die Anzahl der Gebäude, die Aufteilung der Straßen und die Winkel, in denen sie aufeinandertrafen. All diese Zahlen kreisten in ihrem Kopf herum, bis sie sich nur noch in die Dunkelheit zurückziehen und sich von alldem abschotten wollte.

Und dann, als sie die Augen geschlossen hatte, drangen ihre anderen Sinne in den Vordergrund. Sie hörte das Ticken ihrer Armbanduhr, die sie schon vor Tagen abgenommen und quer durchs Zimmer geschleudert hatte, in der Hoffnung, sie dann nicht mehr hören zu müssen. Aber sie konnte die Sekunden immer noch mitzählen. Sogar aus den Kohlensäurebläschen in ihrer Bierflasche formte sich ein Muster, wenn sie die darin enthaltene Flüssigkeit im Halbdunkeln anstarrte: Sie konnte die Zeit zwischen dem Platzen der einzelnen Bläschen zählen und die Geschwindigkeit berechnen, mit der sich die Bläschen bewegten.

Zoe nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, denn das Bier auszutrinken, würde gleich zwei Vorteile mit sich bringen: Erstens würde dadurch das Prickeln der Kohlensäure verstummen, außerdem würde der Alkohol ihre Sinne betäuben. Vielleicht würde ihr die nächste Flasche dann ja nicht mehr ganz so laut erscheinen.

Eine ihrer Katzen, dem Klang der Pfoten auf dem Stoff nach zu urteilen war es Euler, machte es sich auf der Sofalehne hinter ihr bequem. Der Kater schmiegte sich fast vollkommen geräuschlos mit seinem warmen Fell an Zoes kurz geschnittenes Haar. Und doch war er zu hören, denn er hatte einen hörbaren Herzschlag und atmete rhythmisch. So leise diese Geräusche auch sein mochten, sie waren doch wahrnehmbar. Und da Zoe alles andere in ihrer Umgebung aus ihrer Wahrnehmung verdrängt hatte, wusste sie genau, dass sie schon bald anfangen würde, mitzuzählen.

Sie rutschte ein wenig zur Seite und griff nach ihrem Handy. Es lag nutzlos auf der Armlehne des Sofas herum, ausgeschaltet. Sie hatte es schon seit Tagen nicht mehr angemacht. Nachdem sie von dem Fall zurückgekehrt war, der mit ihrer Suspendierung geendet hatte, hatte sie es zunächst angelassen. Aber all die SMS und Benachrichtigungen, mit ihrem ständigen Klingeln und Vibrieren, hatten sie beinahe in den Wahnsinn getrieben, weshalb sie das Handy irgendwann ausgeschaltet hatte. Seitdem hatte sie das Handy einmal am Tag eingeschaltet, die Nachrichten gelesen und es gleich wieder ausgestellt. Jetzt konnte sie sich selbst dazu nicht mehr überwinden. Es war einfach zu viel.

Zoe rechnete sowieso nicht mit irgendwelchen Neuigkeiten. Sie hatte den Kontakt zu allen abgebrochen, sich komplett abgeschottet, und nach einigen Wochen hatten sie ihre Kontaktversuche eingestellt. Auch von der Arbeit würde es nichts Neues geben. Nachdem sie den Mörder ihrer Partnerin, Special Agent Shelley Rose, zusammengeschlagen hatte, war SAIC Maitland nichts anderes übrig geblieben, als sie nach Hause zu schicken. Allerdings erst, nachdem sie den Fall gelöst hatte, was ihr noch immer eine gewisse Genugtuung bereitete . Nicht, dass das reichte. Sie hatte den Mord ja dennoch nicht verhindert.

Sie hatte zugelassen, dass er Shelley ermordete, nahezu direkt vor ihrer Nase.

Zoe verlagerte ihr Gewicht auf dem Sofa, starrte ihr Handy an und berechnete dabei dessen MaГџe, das Gewicht, die Umrisse der Tasten an der Seite. Selbst die Zahlen waren besser zu ertragen, als die Gedanken an Shelleys Ermordung.

Und nicht nur das FBI kontaktierte Zoe nicht mehr. Sie war lang genug mit John zusammen gewesen, um Vertrauen zu ihm zu fassen und darüber nachzudenken, ihm von den Zahlen zu erzählen. Sie hatte das sogar schon geplant, sich dafür mit ihm verabredet. Aber nach Shelleys Tod erschien es ihr sinnlos, ihn weiter zu treffen.

Zunächst hatte er jeden Tag angerufen. Dann hatte er Nachrichten geschrieben, erst dreimal pro Tag, dann zweimal, dann einmal. Die Frequenz hatte rapide abgenommen, bis John es schließlich ganz aufgegeben hatte. Er hatte eine Nachricht geschickt, die sie inzwischen auswendig kannte: Wenn du reden möchtest, bin ich für dich da.

Neun Wörter. Vierunddreißig Buchstaben. Das war seine letzte Nachricht gewesen, er hatte sie vor siebenundzwanzig Tagen geschickt. Das wusste Zoe, ohne die Nachricht dafür noch mal ansehen zu müssen, denn ihre innere Uhr hörte nicht auf, die Stunden mitzuzählen, die seitdem vergangen waren. Sie wusste, dass es in ein paar Stunden achtundzwanzig Tage gewesen sein würden. Jeder Tag zog sich gleichermaßen unerträglich in die Länge, ein immer gleiches Maß, das sich vor ihr und hinter ihr erstreckte und sich immer und immer wieder wiederholte.

Zoe wollte sich gerade das zweite Bier des Abends aufmachen, als sie vor Schreck zusammenfuhr und die Flasche beinahe fallen ließ. Jemand klopfte energisch an die Tür und sofort gingen Zoe allerhand Zahlen durch den Kopf: das Gewicht der Faust, die da klopfte, ihre Geschwindigkeit und die aufgewendete Kraft. Und sie wusste ganz genau, zu wem diese klopfende Faust gehörte.

„Zoe?“ Die Stimme drang unter der Tür in die ansonsten ruhige Wohnung vor; sie war zu laut. Dr. Francesca Applewhite war an fast jedem einzelnen der siebenundzwanzig Tage seit Johns letzter Nachricht vorbeigekommen – und auch an jedem einzelnen Tag davor. Sechsunddreißig Mal hatte sie an die Tür geklopft. Da Dr. Applewhite fast immer im gleichen Rhythmus viermal klopfte – eins, eins-zwei, eins – machte das hundertvierundvierzig einzelne Klopfgeräusche, Aufpralle am Rahmen, an Dr. Applewhites Knöcheln.

Und Zoe hatte die Tür nicht ein einziges Mal geöffnet.

„Zoe, ich möchte bloß deine Stimme hören“, sagte Dr. Applewhite. „Damit ich weiß, dass es dir gut geht.“

Zoe schloss langsam die Augen. Dr. Applewhites Stimme drang in einer Lautstärke von fünfundsechzig Dezibel durch die Tür und war somit nur geringfügig lauter, als sie es in einem normalen Gespräch gewesen wäre. Gerade laut genug dafür, dass man sie auch durch die Tür noch verstehen konnte. Und in der ganzen Wohnung. Es gab keinen Ort, von dem aus Zoe die Stimme nicht hätte verstehen können. Dafür war die Wohnung zu klein. Zoe hatte schon alles versucht.

„Zoe!“

Neunundsechzig Dezibel. Zoe hielt sich die Ohren zu, um die Zahlen nicht mehr hören zu müssen. „Verschwinde!“, schrie sie. Sie konnte sich nicht beherrschen. „Lass mich einfach in Ruhe!“

Aus dem Flur vor ihrer Wohnung war ein sanftes Geräusch zu vernehmen. „In Ordnung, Zoe.“ Neunundsechzig Dezibel. Ruhig und bestimmt. „Dann gehe ich jetzt. Ruf mich einfach an, wenn du irgendetwas brauchst.“

Es folgte eine kurze Pause, in der Hoffnung auf eine Antwort. Zoe erwiderte nichts. Schließlich war zu hören, wie sich Dr. Applewhites Schritte von der Wohnungstür entfernten. Zoe horchte genau hin, bis die Schritte die Treppe erreicht hatten. Am Klang erkannte sie, dass Dr. Applewhite immer noch neunundfünfzig Kilo wog.

Zoe rieb sich die Augen und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Sie öffnete die Flasche und trank einen großen Schluck – so viel, wie sie in einem Zug trinken konnte. Danach stellte sie fest, dass sie die Flasche fast genau bis zur Hälfte geleert hatte. Sie drehte sich wieder zum Sofa um, bewegte sich aber nicht weiter.. Ihre Wohnung erschien ihr jetzt erdrückend eng, zu klein und zu kreisförmig, um ihren Gedanken genug Platz zu bieten.

Sie konnte unmöglich den ganzen Abend hier verbringen, die Zahlen würden das nicht zulassen. Sie konnte nicht ertragen, wie sie in ihrem Kopf widerhallten, ohne eine Reaktion zu erzeugen. Sie waren einfach überall. Und obwohl ihr auch draußen Zahlen begegnen würden, wären das dann immerhin neue Zahlen.

Sie ließ siebzehn Minuten seit den letzten hörbaren Schritten von Dr. Applewhite verstreichen, um sicher zu gehen, dass sie nicht mehr in der Gegend war, trank den Rest ihres zweiten Bieres aus, warf die leere Flasche in den Müll und zog sich dann ihre Schuhe an.


***

Zoe stolperte über einen losen Stein, der auf dem Bürgersteig lag, beinahe wäre sie hingefallen. Als sie noch einmal genauer hinsah, stellte sie fest, dass der Stein nicht einfach zufällig dort lag, sondern Teil der Konstruktion war. Eine Kante, die als seitliche Begrenzung des Gehweges diente. Nun ja. Hätten sie nicht so bauen sollen. Zoe richtete sich vorsichtig wieder auf und konzentrierte sich darauf, nicht noch einmal ins Taumeln zu geraten.

Sie sah die Straße hinauf und stellte bedrückt fest, wo sie sich befand: am selben Ort, an dem sie so oft landete, wenn sie nachts durch die Straßen zog, nachdem sie ein paar Drinks intus hatte. Oder während sie ein paar Drinks zu sich nahm, denn sie hatte den Rest des Sixpacks mitgenommen  – inzwischen waren ihre Hände allerdings leer. Das war nicht gerade ein kurzer Spaziergang gewesen, woraus sich schließen ließ, dass sie sich bewusst entschieden haben musste, hierherzukommen. Auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, diese Entscheidung getroffen zu haben. Wie dem auch sei, hier war sie nun also, vor dem Haus, vor dem diese Ausflüge immer endeten.

Das Haus, zu dem sich Zoe unter normalen Umständen niemals getraut hätte. Es war kein Zufall, dass sie nur nachts herkam, wenn die Dunkelheit ihr Schutz bot und der Alkohol sie weniger nervös gemacht hatte. Nachts war es unwahrscheinlich, dass sie Zoe sehen würden, weshalb sie ungestört dort stehen und sich in ihren Schuldgefühlen suhlen konnte, ohne jemals irgendetwas dagegen zu tun.

Was nicht hieß, dass sie nichts tun wollte. Zoe wünschte sich nichts sehnlicher, als an die Tür dieses Hauses zu klopfen. Sie wünschte sich, dass sich die Haustür öffnen und ihre Partnerin Shelley Rose vor ihr stehen würde, mit ihrer perfekt sitzenden Frisur und ihrem sauber aufgetragenen, rosafarbenen Lippenstift. Sie wünschte sich, dass Shelley sie anlächeln und „Dann wollen wir mal, Zoe!“ oder etwas dergleichen sagen würde. Und dass sie dann zusammen in einen Flieger steigen und irgendwo einen Mordfall lösen würden. Dass einfach alles in Ordnung wäre.

Aber das war unmöglich, denn Shelley wohnte hier nicht mehr. Shelley lag unter der Erde. Zoe hatte dabei zugesehen, wie man sie in ihr frisch ausgehobenes Grab hinabgelassen hatte, während ihr Ehemann und ihre Tochter daneben standen. Sie hatte schon damals etwas sagen wollen, aber sie hatte es ebenfalls nicht geschafft. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, aber sie schaffte es immer noch nicht. Sie hatte es nicht verdient, mit der Sache einfach so abzuschließen.

Shelleys Ehemann hatte nun keine Frau mehr. Shelleys Tochter hatte nun keine Mutter mehr. Zoe hätte bei ihnen klopfen und ihnen sagen können, dass es ihr leid tat, dass sie an allem Schuld war, dass sie es nicht hatte verhindern können. Sie hätte die ganze Schuld auf sich nehmen können, den ganzen Hass der beiden – und überhaupt alles, was sie Zoe an den Kopf werfen wollten – absorbieren können. Sie hätte dafür sorgen können, dass es den beiden ein wenig besser ging.

Aber ob nun aus Rücksicht auf sich selbst oder auf Shelleys Familie – es war ihr nicht möglich. Nicht nur, weil sie es nicht verdient hatte. Auch nicht, weil sie sich nicht traute. Zoe sah zu dem Haus auf und versuchte, zu formulieren, was sie den beiden sagen würde. Aber alles, das ihr in den Sinn kam, war: Zur Straße hin hat das Haus fünf Fenster, die jeweils in vier Teile unterteilt sind; die Haustür ist zwei Meter hoch; der Weg zur Tür ist einen Meter und achtzig Zentimeter lang und besteht aus zwölf Gehwegplatten; jede einzelne dieser Platten ist fünfzehn Zentimeter lang, was im angloamerikanischen Maßsystem etwa einem halben Fuß oder sechs Zoll oder 0,164 Yard entspräche…

Zoe fand fГјr sie keine Worte. Ihr kamen nur Zahlen in den Sinn. Sie wandte sich von dem ihr wohlbekannten Haus, mit all seinen MaГџen und Dimensionen, ab und zwang sich dazu, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Wenn sie an diesem Moment angelangt war, dann ging es ihr immer noch schlechter, als es ihr vor ihrem Aufbruch gegangen war. Und doch fГјhrte es sie immer wieder hierher.

Früher oder später würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als einfach gar nicht mehr rauszugehen. Es war das Risiko einfach nicht wert.

Und Zoe sah keinen Ausweg aus dieser schrecklichen Situation – eine Situation, in die sie sich selbst gebracht hatte. Sie würde einfach mit ausgeschaltetem Handy zu Hause sitzen bleiben und all die Anrufe ignorieren, die sie erhalten würde, wenn ihre Suspendierung aufgehoben wurde, und alles zur Erinnerung von jemand anderem verblassen lassen.




KAPITEL ZWEI


Elara Vega sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch, eine Geste, die nur für sie selbst gedacht war. Sie war schließlich allein; ihre Kollegen waren bereits gegangen, die meisten um sechs, als die Arbeitszeit offiziell geendet hatte. Aber Elara bedeutete ihre Arbeit alles – das war schon immer so gewesen.

Nein, das stimmte nicht ganz, dachte sie, während sie ihre Sachen zusammensuchte und ihre Notizen für den nächsten Morgen sortierte. Es hatte auch eine Zeit gegeben, in der ihr andere Dinge wichtiger gewesen waren. Sie hatte ihren Sohn groß gezogen und für eine Weile war sie auch verheiratet gewesen, auch wenn die Scheidung nun schon zwanzig Jahre zurücklag. Zwei Jahre nach der Scheidung war ihr Sohn fürs Studium ausgezogen und seitdem lebte sie allein. Ihr gefiel dieses Leben. So hatte sie all die Sterne und Planeten, die Ewigkeit und Vergänglichkeit zugleich repräsentierten, ganz für sich.

Elara warf noch einen weiteren Blick auf ihren aufgeräumten Schreibtisch, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war. Wenn sie in ihren neunundfünfzig Lebensjahren eines gelernt hatte, dann, dass es wesentlich einfacher war, immer alles gleich aufzuräumen, als ein Chaos zu beseitigen, das sich über längere Zeit angesammelt hatte.

Mit dem Ergebnis ihrer Mühen zufrieden, griff Elara nach ihrem Mantel, der über der Lehne ihres Stuhls hing, und warf ihn sich über. Dann machte sie sich in Richtung Ausgang auf. Sie war gerade dabei, ihren Kragen zu glätten, als sie in den Flur trat und sah, dass dort einer der Hausmeister damit beschäftigt war, mit kreisrunden Bewegungen den Boden zu wischen. Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie so lange im Büro geblieben war, dass sie die Reinigungskräfte beim Putzen störte. Die mussten ja auch ihre Arbeit machen und waren sicher nicht begeistert davon, wenn sie in ihren Schuhen über den frisch gewischten Boden stiefelte.

In dem Planetarium gab es sowohl Büros als auch Konferenz- und Veranstaltungsräume, die alle um den in der Mitte gelegenen Vorführsaal angeordnet waren, von dem aus man ins Foyer und damit zum Ausgang kam. Elara trat in den dunklen Raum, der nachts, wenn das ganze Gebäude dunkel und still war und auf all den hier aufgereihten Stühlen niemand saß, immer etwas Gruseliges an sich hatte. Sie fühlte sich dabei immer an eine typische Horrorfilmszene erinnert, in der die Charaktere einen verwaisten und heruntergekommenen alten Kinosaal mit verrottenden Sitzpolstern und eingestaubtem Filmprojektor entdeckten. Sie mühte sich, den Saal rasch zu durchqueren, um möglichst schnell in das wesentlich weniger furchteinflößende Foyer zu gelangen. Und danach an die kühle Nachtluft.

Sie hatte gerade etwa die Mitte der vordersten Sitzreihe erreicht, als sie ein ihr gut bekanntes Geräusch vernahm: das mechanische Rattern des Projektors, das immer zu hören war, wenn er den Betrieb aufnahm. Elara blieb stehen, blickte sich verwundert um und sah schließlich zur Decke auf. Die Sterne und Planeten waren über ihrem Kopf zum Leben erwacht und wirbelten herum, bis sie schließlich an ihren Plätzen für den Beginn der Vorstellung zur Ruhe kamen. Sie hatte das schon hunderte Male gesehen und war sogar beteiligt gewesen, als vor einigen Jahren die Genauigkeit des Systems anhand neuer Sternkarten überprüft und aktualisiert worden war. Aber zu Beginn der Präsentation hier in der Mitte zu stehen, das war dennoch auch für sie ein ganz neues Gefühl. Es machte beinahe den Eindruck, als könnte sie nach den Sternen greifen und sie berühren…

Aber wer hatte den Projektor eingeschaltet? All ihre Kollegen waren bereits nach Hause gegangen. Und zu dieser späten Stunde sollte er eigentlich nicht an sein. Orchestermusik dröhnte nun aus den Lautsprechern, so laut, dass Elara nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Sie runzelte die Stirn und drehte sich langsam um, denn sie dachte, dass sie besser mal im Projektorraum nachsehen sollte–

Doch plötzlich kniete sie auf dem Boden und starrte den Teppich an. Wie war das denn passiert? Gerade eben noch war sie doch – aber dann hatte ein starker Schmerz ihren Hinterkopf durchzogen – sie erinnerte sich daran, dass etwas mit krachendem Geräusch dagegen geprallt war, das Geräusch war sogar noch lauter als die Musik gewesen – daraufhin hatten ihre Beine nachgegeben, genau wie ihre Arme, ihr ganzer Körper hatte förmlich zu brummen begonnen–

Nun vernahm sie noch etwas anderes in ihrem Nacken – eine andere Form des Schmerzes – eine Hand, die fest zupackte, ohne Rücksicht auf ihre empfindliche Haut zu nehmen. Elara versuchte benommen, sich aus dem Griff zu befreien, denn sie wollte, dass der Schmerz aufhörte. Doch die Hand griff dadurch nur noch fester zu. Der Schmerz schien wie aus weiter Entfernung zu ihr durchzudringen. Als käme er von einem anderen Planeten, durch die große Entfernung und das Licht der anderen Sterne verschleiert. Sie bewegte sich nun. Genauer gesagt wurde sie bewegt, denn etwas packte sie immer noch am Nacken – brachte sie irgendwo hin, ihre Beine schleiften dabei hilflos den Boden entlang.

Elara gab sich alle Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, sie daran zu hindern, immer weiter über den glatten Boden zu rutschen. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, denn die Musik war zu laut und die Lichter zu grell. Und dann floss da auch noch irgendetwas Heißes ihre Stirn herunter, direkt in ihr Auge. Unter sich nahm sie nun etwas Rundes wahr, aus Metall, darin bewegte sich etwas, von dem das Licht reflektiert wurde – Wasser. Und dann–

Das kalte Wasser versetzte ihr einen Schock, ließ sie laut nach Luft schnappen, es war die erste klare und deutliche Reaktion, die sie zu zeigen imstande war, seitdem die Projektion begonnen hatte. Bedauernswerterweise war das aber auch genau die eine Reaktion, die in dieser Situation nicht angemessen war: Denn es drang nur Wasser in ihre Lungen, keine Luft. Das überwältigende Gefühl, mit dem es in ihren Mund strömte und ihren Rachen hinunterlief, löste eine Panik in ihr aus, die jedwede Verwirrung und jeden Schmerz, den sie vorher verspürt hatte, verdrängte. Sie dachte nur noch daran, dass sie irgendwie hier rauskommen musste, dass sie irgendwie wieder auftauchen, es an die Oberfläche und an die Luft schaffen musste.

Elara quälte sich, zappelte, versuchte, sich an dem metallenen Behälter festzukrallen, sich daran nach oben zu ziehen. Sie spürte, wie er unter ihr zu wackeln begann, und aus irgendeinem Grund wackelte sie mit. Da stand etwas über ihr, das sie niederdrückte und sie daran hinderte, den Kopf aus dem Wasser zu ziehen. Ihr Sichtfeld verdunkelte sich, schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen. Sie war von Wasserblasen umgeben und die schwarzen Punkte tanzten, genau wie die glitzernden Reflektionen des Lichtes, von einer Blase zur nächsten – während sie verzweifelt um sich schlug und darum kämpfte, ihren Kopf zu heben.

In einem letzten Aufbäumen versuchte Elara, sich einfach nach hinten fallenzulassen und mit der Bewegung den Behälter umzukippen, aber ihre Kehle zog sich krampfhaft zusammen und ihr Augenlicht ließ nach und ihr wurde klar, dass sie nichts mehr tun konnte. Ein schmerzhafter Krampf in ihrer Brust zwang sie dazu, noch ein letztes Mal nach Luft zu schnappen – aber da war keine Luft. Dann wurde sie von totaler Finsternis umhüllt, um sie herum war nichts mehr – nicht einmal mehr das Funkeln der Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt waren, in einer anderen Galaxie. Und die gerade im Begriff waren, zu sterben – oder vielleicht waren sie auch schon tot.




KAPITEL DREI


Zoe hielt auf ihrem Weg durch die Küche zweimal inne, fasste sich an den Kopf und stöhnte. Sie musste sich rehydrieren. Aber sofort nachdem sie sich der Fensterseite des Raumes zugewandt hatte, bereute sie dies auch schon. Sie hatte in der letzten Nacht die Vorhänge nicht zugezogen und nun schien die späte Morgensonne in das Fenster und durchflutete das Zimmer mit einem grellen Licht, das bei ihr pochende Kopfschmerzen auslöste.

Dieser Kater hatte ihr gerade noch gefehlt. Dabei hatte sie gestern Abend nur etwa sechsundfünfzig Gramm Alkohol zu sich genommen. Ihr Körper hätte eigentlich in der Lage sein sollen, diese Menge innerhalb von sieben Stunden abzubauen. Allerdings war sie gestern erst sehr spät ins Bett gegangen, sie hatte dafür nicht mal ihre Schuhe ausgezogen, weshalb es definitiv nicht auszuschließen war, dass sie nach ihrer Heimkehr noch mehr getrunken hatte und sich nicht mehr daran erinnern konnten. Ihr Kopf dröhnte jedenfalls und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach wieder einschlafen zu können.

Auf ihrer persönlichen Skala von eins bis zehn hätte sie den Schmerz wahrscheinlich als eine Sechs eingestuft. Der Lärm von draußen war aber noch schlimmer zu ertragen: Tagsüber konnte Zoe die Stadt nicht ausstehen. Selbst wenn sie sich in ihre Wohnung zurückzog und alle Fenster geschlossen ließ, konnte sie ihn immer noch hören. Den nicht enden wollenden Strom des Verkehrslärms. Die Motorgeräusche und den Abrieb der Reifen auf dem Asphalt, an denen sie die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den umliegenden Straßen bei der heutigen Verkehrslage erkennen konnte. Die polternden Schritte der Frau aus der Wohnung über ihr, die Zoe sagten, dass sie gerade zum Kühlschrank ging, weil die Wohnung genauso wie ihr eigene angelegt war und sie sieben Schritte in südliche Richtung gemacht hatte. Danach, auf dem Rückweg, den Lärm der sieben Schritte in die entgegengesetzte Richtung.

Dann war da noch der Gesang der ganzen Vögel, die es irgendwie schafften, ihr gesamtes Leben in dieser Stadt zu verbringen, obwohl es hier sicher nicht so viele Bäume gab, wie es ihnen lieb gewesen wäre. Sie riefen einander in einem immer wiederkehrenden, nervtötenden Rhythmus zu: ein dreifaches Trillern, noch ein dreifaches Trillern und noch ein dreifaches Trillern. Unveränderlich. Dann kurz Stille, bevor sie wieder von vorn begannen. Die einzige Abweichung bestand darin, dass sich die Stimme mancher Vögel bei manchen der Trillergeräusche hin und wieder ein wenig überschlug. Danach aber kehrten sie sofort zu ihrem immer gleichen Rhythmus zurück.

„Haltet die Klappe, ihr verdammten Vögel“, rief Zoe laut aus und deckte dabei ihr Gesicht mit ihren Händen ab. Ein leises Miauen aus Richtung der Tür veranlasste sie dazu, ihre Augen einen Spalt weit zu öffnen, woraufhin sie Pythagoras sah, ihre Burma-Katze, die sie mit tadelndem Blick beobachtete.

Zoe seufzte. Immerhin war ihr Leben noch nicht vollkommen sinnlos und ohne Struktur. Sie hatte immer noch die Katzen, die gefüttert werden mussten, komme was wolle. Sie holte das Katzenfutter aus dem Schrank und schüttelte die Packung, bis sie anhand des Raschelns abschätzen konnte, dass sie hundertzwanzig Stücke des Trockenfutters ausgekippt hatte. Pythagoras und Euler kamen sofort angerannt und Zoe beobachtete sie dabei, wie sie sich auf ihre Näpfe stürzten, während sie mit einem Schluck Wasser eine Schmerztablette herunterspülte.

Zoe zwang sich dazu, das gesamte Wasserglas auszutrinken, danach füllte sie es direkt wieder auf. Noch drei weitere Gläser, dann würden die Kopfschmerzen nachlassen, so ihre Schätzung. Ihr ging es bereits jetzt etwas besser.

Das half ihr allerdings nicht, als ein lautes Klopfen an der Haustür sie so sehr erschreckte, dass sie einen großen Schluck Wasser verschüttete, der plätschernd auf dem Küchenboden landete.

Nicht jetzt, Dr. Applewhite, dachte Zoe sich, aber als sie noch einmal darüber nachdachte, stellte sie fest, dass das Klopfen irgendetwas ungewöhnliches an sich hatte. Es hörte sich so an, als steckte mehr Gewicht dahinter. Es war ein festeres Klopfen, als das Dr. Applewhites. Und auch der Rhythmus war anders. Eins-zwei-drei, kein vierter Schlag, keine Wiederholung. Es war wahrscheinlich ein Mann, vermutete Zoe, was ihr komisch vorkam.

Vielleicht hatte ihr das FBI ein Paket geschickt, mit all den Dingen, die sie im J. Edgar Hoover- Gebäude zurückgelassen hatte, und der Paketbote brauchte nun ihre Unterschrift. Das war eine mögliche Erklärung. Zwar nicht sonderlich wahrscheinlich, aber doch Grund genug für sie, sich zu überwinden und zumindest einmal nachzusehen.

Zoe öffnete die Tür, ließ die Sicherheitskette aber noch geschlossen, bis sie sah, dass SAIC Leo Maitland davor stand – ihr Chef. Er hatte die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und einen milden Gesichtsausdruck aufgesetzt, was nicht zwangsläufig ein gutes Zeichen war. Er hatte viel zu tun und normalerweise keine Zeit für Hausbesuche. Sein Blick, gepaart mit der ihr antrainierten Obrigkeitshörigkeit, veranlasste Zoe dazu, die Tür nur deshalb wieder zu schließen, um die Kette auszuhaken, sie dann ganz zu öffnen und ihm schließlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Sie bereute es, kein besser zusammenpassendes Outfit zu tragen und sich heute morgen nicht gekämmt zu haben, aber das ließ sich nicht ändern.

„Agent Prime.“ Maitlands Stimme kam einem tiefen Brummen gleich. Mit seinen eins neunzig war er fast dreizehn Zentimeter größer als sie, was er nun nutzte, um ihr von oben herab einen tadelnden Blick zuzuwerfen, wie ein Lehrer, der ein ungezogenes Kind ermahnen wollte.

„Sir“, sagte Zoe und mühte sich dabei, mit sicherer Stimme zu sprechen. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, sich mit irgendwelchen Arbeitsangelegenheiten auseinanderzusetzen. Nicht, solange sie immer noch überall Zahlen sah, wie jetzt etwa die Winkel und Maße, die man an Maitlands aufrechter, militärischer Körperhaltung ablesen konnte. So fiel ihr auch auf, dass weder seine einhundertfünfzehn Zentimeter breite Brust noch sein achtunddreißig Zentimeter großer Bizeps kleiner geworden waren, seit sie das letzte Mal im Büro gewesen war.

Seit er sie suspendiert hatte, weil sie die Leiche ihrer ermordeten Partnerin gefunden und später so lange auf den Täter eingeschlagen hatte, bis ihre Kollegen sie gewaltsam von ihm weggezerrt hatten.

„Ich bin aus dem Hauptquartier hergekommen, um persönlich mit Ihnen zu sprechen“, sagte er. Er hatte einen bedeutungsschwangeren Tonfall aufgesetzt. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich reinkomme?“

Zoe starrte ihn für einen Augenblick irritiert an. Was hatte dieser merkwürdige Tonfall zu bedeuten? War er wütend auf sie? Oder belustigt? Enttäuscht? Was denn bloß? Bei ihr kamen nur die einundsechzig Dezibel an, die zwanzig Wörter, der Rhythmus und die Kadenz der einzelnen Silben. Aber sie machte ihm dennoch den Weg frei und deutete in Richtung ihres Sofas, woraufhin Maitland vorsichtigen Schrittes an ihr vorbei und in die Wohnung trat.

Doch er lieГџ nicht etwa Vorsicht walten, weil er darauf achtete, nicht auf etwas Wichtiges zu treten. Sondern weil er sich nicht die Schuhe schmutzig machen wollte.

Maitland nahm behutsam auf dem Sofa Platz, während Zoe die Tür schloss und ihm dann folgte. Sie zögerte; da sie normalerweise nie Besuch hatte, hatte sie es bisher nicht für notwendig gehalten, noch eine weitere Sitzgelegenheit zu kaufen. Hier stand also bloß das Sofa, weshalb sie sich neben ihn setzen musste – was unangenehm und unangemessen war. Und außerdem verwirrend, denn sie wusste gar nicht, in welchem Winkel sie sich dabei zu ihm drehen sollte. Nach einem Moment des Zauderns nahm sie aber Platz, sie hatte sich für einen fünfundvierzig Grad Winkel entschieden: so saß sie ihm nicht direkt gegenüber, starrte aber auch nicht einfach geradeaus ins Leere. Es war die Zwischenlösung.

„Agent Prime“, sagte Maitland erneut und schien dabei seine Worte mit Bedacht zu wählen. „Was ist gestern passiert?“

„Gestern?“, wiederholte Zoe stumpfsinnig. Sie versuchte, sich zu erinnern. Gestern? Was hatten sie denn gestern überhaupt gemacht? Sie hatte apathisch aus dem Fenster gesehen, Dr. Applewhite erneut abgewiesen, einen Spaziergang gemacht. Ach. Der Spaziergang. Hatte Harry Rose sich beschwert?

Maitland rutschte nervös hin und her und drehte sich ein Stück weiter zu ihr. Zoe bemerkte, dass sein Igelschnitt zwar genauso kurz geschnitten war wie immer, im Vergleich zu ihrer letzten Begegnung allerdings grauer geworden war.

„Ihre Suspendierung ist gestern abgelaufen. Ich hatte erwartet, dass Sie zum Dienst erscheinen.“

„Das war gestern?“. fragte Zoe und ging gedanklich den Kalender durch. Ja, dachte sie, es war die richtige Anzahl an Tagen vergangen. Und außerdem war gestern ein Mittwoch gewesen. Also stimmte das Datum wohl. Das war ihr völlig entgangen.

„Ich habe Ihnen diesbezüglich mehrere E-Mails geschickt“, sagte Maitland. Er wandte den Kopf ab, sah sich in der Wohnung um. Zoe erkannte an seinem Blickwinkel, wohin er sah. Computer: ausgeschaltet; Handy: Akku leer; Festnetz: aus der Leitung gezogen. „Ich habe Sie auch diverse Male angerufen und, weil ich nicht durchgekommen bin, mehrfach Sprachnachrichten hinterlassen.“

Zoe nickte ruhig. Dreimal, im Takt: eins, zwei, drei. „Es tut mir leid“, sagte sie, auch wenn das nicht unbedingt die Wahrheit war. „Ich war in letzter Zeit nicht besonders gut darin, auf dem Laufenden zu bleiben.“

Maitland seufzte. „Ich weiß doch, dass die letzten Monate sehr schwer für Sie waren, Zoe“, sagte er. „Ich habe Sie für sechs Wochen suspendiert, weil ich wusste, dass Sie auf jeden Fall beurlaubt werden würden. Das ist vorgeschrieben, wenn Ermittler ihren Partner verlieren. Erst recht, wenn es auf diese Art und Weise passiert. Waren Sie bei der psychologischen Beratung?“

Nun schГјttelte Zoe langsam den Kopf. Wieder im Takt: eins, zwei, drei. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzulГјgen. Er konnte das problemlos ГјberprГјfen. Hatte er wahrscheinlich schon getan. Sie hatte es nicht fГјr sinnvoll gehalten, dort hinzugehen. SchlieГџlich hatte sie ihre eigene Therapeutin. Wobei sie da in den letzten Wochen auch nicht hingegangen ist.

„Warum nicht?“, fragte Maitland.

Zoe dachte darüber nach, was sie antworten sollte. Sie dachte zu lang darüber nach. Die Sekunden verstrichen – drei, vier, fünf – und Maitland verlor die Geduld.

„Also gut, hören Sie mir mal zu“, sagte er, woraufhin Zoe Blickkontakt mit ihm aufnahm. Sie versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren, statt auf den Umfang seiner Iris oder darauf, wie diese sich veränderte, wenn er den Kopf bewegte und deshalb das Licht in einem anderen Winkel auf sie einfiel. „Ich bin heute hier, weil ich wissen muss, was Ihre weiteren Pläne sind. Sie haben sich dazu entschieden, nicht zur Arbeit zurückzukommen. Soll ich das als ihre Kündigung betrachten?“

Zoe öffnete sofort den Mund, um ihn zu signalisieren, dass sie auf die Frage antworten wollte. Denn es war keine schwere Frage. „Ja“, sagte sie, ohne zu zögern. Wie sollte sie auch jemals zurück zur Arbeit gehen? Wie sollte sie es schaffen, ohne ihre Partnerin wieder ins Büro zu gehen? Bevor Shelley ihre Partnerin geworden war, hatten all ihre Kollegen sie gehasst. Sie ignoriert. Jetzt, wo Shelley verstorben war, wäre es sicher noch schlimmer als vorher.

Maitland nickte ruhig. Genau wie sie es zuvor getan hatte. Dreimal, im Takt: eins, zwei, drei. „Okay“, sagte er. „Wenn Sie sich da ganz sicher sind. Das brauche ich allerdings schriftlich.“

Zoe sah zu ihrem Computer herüber und nickte ihm schweigend zu. Sie konnte morgen ein Schreiben aufsetzen und es ihm zuschicken, dann wäre die Sache gleich erledigt.

Maitland begann, sich zu erheben, er wollte offenbar nicht mehr länger bleiben. Dank seiner wuchtigen Struktur musste er dabei behutsam vorgehen. „Aber bevor Sie die Kündigung schreiben, habe ich noch was für Sie“, sagte er und streckte ihr eine Aktenmappe entgegen. Zoe war so konzentriert auf die Maße seiner Iris gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass die Mappe die ganze Zeit auf seinem Schoß gelegen hatte. Sie hatte die übliche Größe, war braun, aber es ragte etwas weißes etwa zwei Millimeter über den Rand heraus. „Ich denke, das sollten Sie sich mal ansehen. Könnte Sie vielleicht interessieren – und ich könnte Sie für die Ermittlungen gut gebrauchen.“

Zoe starrte die Akte misstrauisch an, bis Maitland schlieГџlich seufzte und sie auf Zoes Couchtisch ablegte.

„Ich finde den Ausgang“, sagte er und ging zur Tür. Kurz bevor er dort angekommen war, hielt er inne und sah zu ihr zurück. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Ungewöhnliches an sich, Zoe glaubte, dass sie womöglich Traurigkeit daran ablesen konnte. „Sie sind eine gute Ermittlerin, Prime. Es wäre eine Schande, wenn sich herausstellen sollte, dass dieser widerliche Typ die Karrieren von gleich zwei meiner besten Ermittlerinnen beendet hat. Ich habe bei anderen Ermittlern mit angesehen, wie sie etwas Ähnliches durchgemacht haben. Und was ihnen am meisten geholfen hat, war immer, sich wieder in die Arbeit zu stürzen.“

Und dann war er weg. Er hatte Zoe allein mit der Aktenmappe zurГјckgelassen. Sie starrte die Mappe an und analysierte ihre MaГџe. Alles andere um sich herum versuchte sie, zu ignorieren.


***

Es war noch nicht einmal Mittag, aber Zoe war bereits vollkommen erschöpft. Ihre Kopfschmerzen waren immer noch nicht weg und sie war todmüde. Nachdem sie die halbe Nacht auf den Beinen gewesen war und außerdem noch getrunken hatte, fehlt ihr nun jede Kraft. Es war nicht der erste Tag, an dem es ihr so ging. Nicht mal der erste in dieser Woche.

Sie erhob sich vom Sofa und mГјhte sich bis in ihr Schlafzimmer, wo sie sich einfach aufs Bett fallen lieГџ, ohne sich auszuziehen oder die Bettdecke aufzuschlagen. Dann schloss sie die Augen und schlief, auf dem Bauch liegend und mit dem Kopf auf das Kissen gedrГјckt, endlich ein. Und hatte endlich Ruhe.

„Zoe, du musst mir jetzt unbedingt zuhören.“

Zoe dreht sich um und stellte fest, dass Shelley vor ihr stand. Sie trug ein hübsches Kleid, ihre Frisur und ihr Make-up sahen noch perfekter aus, als sie es normalerweise taten und sie trug High-Heels, die sie größer machten. Zoe sah an sich herab und bemerkte, dass sie die gleiche Kleidung trug. Sie befanden sich in der Damentoilette eines Restaurants, draußen warteten ihre Lebensgefährten auf sie.

„Was?“, fragte Zoe mit bösem Blick. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war. Irgendwas lief hier falsch.

„Du musst mir zuhören“, sagte Shelley beharrlich.

Zoe schaute noch finsterer drein und machte einen Schritt auf Shelley zu, aber obwohl sie sich nicht bewegt hatte, war Shelley immer noch genau gleich weit entfernt. „Worauf muss ich hören?“, fragte Zoe.

Shelley deutete zu dem Spiegel hinter Zoe und Zoe drehte sich dahin um: Darin war ihr Spiegelbild zu sehen, aber ohne Make-up und schicke Kleidung, sondern ganz so, wie sie zur Zeit wirklich aussah: verschlafen und blass, im Jogginganzug, ungepflegt und mit dunklen Augenringen.

Davon abgesehen war im Spiegel nichts und niemand anderes zu sehen.

Zoe drehte sich verwirrt wieder zu Shelley um. Doch Shelley starrte sie bloß schweigend an. Mit einem solch energischen Blick, dass Zoe die Worte im Halse stecken blieben. Sie war zu nichts anderem in der Lage, als zurückzustarren. Und dabei zu versuchen, zu erraten, was Shelley ihr mit ihrem Blick sagen wollte, insbesondere als Shelleys Augen weiß und glasig wurden und aufhörten überhaupt etwas anzustarren.

Zoe schreckte auf und saß nun aufrecht und schwer atmend in ihrem Bett. Sie war durchgeschwitzt und ihr war zu warm – und als sie sich die Haare aus dem Gesicht wischte, stellte sie fest, dass sie ganz nass geworden waren. Sie brauchte eine ganze Weile, um den Gedanken an Shelleys ganz und gar weiße Augen zu wieder loszuwerden. Als sie schließlich zur Seite sah, starrte sie direkt in ein weiteres, übergroßes Augenpaar. Zoe schrie auf und rutschte auf dem Bett erschrocken zur Seite, bis ihr schließlich klar wurde, dass das bloß Eulers Augen waren, der sie mit einem besorgten Schnurren beobachtete und dabei eine seiner Pfoten in die Luft reckte.

Zoe kam wieder zu Atem und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn hinterm Ohr zu kraulen und ihn damit wissen zu lassen, dass alles in Ordnung war. Ihr Herz raste zwar immer noch, aber er drehte sich daraufhin um und spazierte davon. Er hatte offenbar das Interesse an dem seltsamen Verhalten dieses Menschen verloren. Zoe zählte jeden einzelnen seiner Schritte mit, bis er aus dem Zimmer verschwunden war. Danach versuchte sie stattdessen ihre eigenen Atemzüge zu zählen und sie dabei so gut es ging zu verlangsamen.

Erholsamer Schlaf war das jedenfalls nicht gewesen. Zoe schwang die Beine aus dem Bett und als sie den kalten Boden unter den Füßen spürte, beruhigte sie dieses Gefühl ein wenig; es erinnerte sie daran, dass sie jetzt wieder in der realen Welt war und nicht mehr in einem Traum feststeckte. Oder besser gesagt in einem Albtraum. Was hatte Shelley ihr bloß sagen wollen? Zoe hatte keine Ahnung. Das war doch das Problem mit dem Unterbewusstsein – es war durchaus möglich, dass es überhaupt nichts zu sagen hatte.

Sie trabte Euler hinterher, bis in die Küche, in der Absicht, zunächst noch ein Glas Wasser zu trinken und danach duschen zu gehen. Während sie sich beim Trinken auf der Küchentheke abstütze, sah sie zum Couchtisch hinüber und bemerkte die Akte, die darauf lag. Sie beschloss, sie zu ignorieren. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Traum hin oder her. Sie sah bewusst in eine andere Richtung und wünschte sich, Maitland hätte die Mappe gar nicht erst dagelassen.

Zoe sah an ihrem Körper herab: ein Pulli und eine Jogginghose, die nicht zusammenpassten, beide noch aus ihrer Zeit an der Uni, ausgeleiert und verwaschen. Sie hatte sich schon seit Tagen nicht mehr die Haare gewaschen. Damit konnte sie dann jetzt immerhin ein wenig Zeit totschlagen.

Doch im Badezimmer geriet sie ins Stocken, denn der Anblick ihres eigenen Gesichtes im Spiegel versetzte ihr einen Schock. Sie hatte es jetzt eine ganze Weile vermieden, in den Spiegel zu sehen, aber aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich lag es an ihrem Traum – schaute sie sich ihr Spiegelbild diesmal an. Nun sah sie sich so, wie auch Maitland sie gesehen haben musste. Mit tiefen Augenringen unter den Augen, mit fettigem und ungekämmten Haaren, mit bleicher Haut. Sie sah fürchterlich aus.

Sie hatte es auch verdient, fürchterlich auszusehen. Schließlich hatte sie doch zugelassen, dass ihre Partnerin ermordet worden war, oder nicht? Zoe schloss die Augen für einen Moment, um den damit verbundenen Schmerz zu verdrängen. Sie wollte, dass der Schmerz aufhörte.

Dann kamen ihr Maitlands Worte wieder in den Sinn. Seine Vermutung, dass es ihr durch die Arbeit womöglich leichter fallen würde, all diese Ereignisse hinter sich zu lassen. Dass die Arbeit ihren Schmerz vielleicht ein wenig lindern würde.

Es schadete ja nicht, wenigstens einmal hineinzusehen. Dann würde Maitland nicht erneut vorbeikommen – und vielleicht würde auch ihre tote Partnerin sie dann nicht mehr im Traum heimsuchen. Zumindest konnte sie sich dann sagen, dass sie es wenigstens versucht hatte.

Bevor sie es sich wieder anders Гјberlegen konnte, ging Zoe zum Tisch hinГјber und schnappte sich die Akte. Darin waren vier Blatt Papier, jeweils zwei fГјr jedes der zwei Opfer. Allein dadurch, diese Unterlagen in der Hand zu halten, wurde ihr Гјbel. Aber innerlich hatte sie immer noch das Bild von Shelley aus ihrem Traum vor sich, deshalb begann Zoe, sich die Akte durchzulesen.

Sie überflog die darin enthaltenen Informationen schnellen Auges, dabei stachen einige Wörter und Sätze besonders hervor. Die Leichen waren im nördlichen Hinterland des Bundesstaates New York gefunden worden. Da durfte es zu dieser Jahreszeit ziemlich kalt sein. Es sah ganz danach aus, als wäre der Tathergang bei beiden Frauen unterschiedlich gewesen. Und auch die Frauen selbst unterschieden sich in ihren Eigenschaften. Zoe erkannte keine Parallelen in Sachen Alter, Körpergewicht- und -größe, Wohnort oder in der gewählten Mordmethode.

Aber zwischen den beiden Fällen gab es dennoch eine Verbindung, einen Grund dafür, warum man sie beide in die gleiche Akte sortiert und Zoe gemeinsam überreicht hatte. Bei beiden Opfern fand sich auf dem Bauch ein postmortal eingraviertes Symbol, allem Anschein nach war dafür eine Messerspitze verwendet worden: eine gerade Linie, die zwei rechtwinklige Beine miteinander Verband, die von ihr hinunterliefen wie Stützen. Zoe erkannte sofort, dass es dem für die Zahl Pi üblicherweise verwendeten Symbol ähnelte, auch wenn die übliche Kurve an einem der Füße etwas steifer wirkte.

Interessant. Ihr war nun klar, warum Maitland ihr die Akte dagelassen hatte. Das war genau die Art Fall, an dem sie früher gearbeitet hätte. Die Art Fall, von dem Shelley gehört und dann ihre Namen für die Ermittlungen ins Spiel gebracht hätte, wenn Maitland selbst noch nicht auf die Idee gekommen war. Zeichen und Symbole, Gleichungen, merkwürdige Hinweise, aus denen die meisten anderen Ermittler nicht schlau wurden. Das war genau ihr Ding.

Und in gewisser Weise war es nun sogar fast erfrischend, sich diese Akte anzusehen. Und damit dafür zu sorgen, dass die Zahlen diesmal an etwas arbeiteten, für das sie tatsächlich relevant waren – etwas, das sie zu ihrer Karriere gemacht hatte. Die Suche nach Verbindungen zwischen Hinweisen, um damit einen Mordfall zu lösen. Es fühlte sich gut an, von den Zahlen zur Abwechslung mit Informationen zu einem Fall überladen zu werden – und nicht bloß von den Maßen ihrer Wohnung und all der Dinge, die sich darin fanden. Es war eine Erleichterung.

Was nicht heißen sollte, dass sie den Fall tatsächlich annehmen würde – aber ihr Interesse war geweckt. Und zwar so sehr, dass sie mehr wissen wollte, selbst wenn sie dafür zu Maitland ins Büro gehen musste. Möglicherweise konnte sie die Zahlen dadurch noch ein wenig länger im Zaum halten, weil sie auf etwas anderes gelenkt werden würden. Und vielleicht würde sie sich dadurch für ein paar Minuten wieder wie sie selbst fühlen.

Aber erstmal gab es etwas noch viel Wichtigeres zu erledigen – sonst würde sie es gar nicht erst bis ins Hauptquartier schaffen.




KAPITEL VIER


Zoe sah starr geradeaus, konzentrierte sich ganz auf das Auto vor ihr. Es war bisher eine ziemlich anstrengende Fahrt gewesen. Es war kein Leichtes, sicher zu fahren, wenn man dabei nicht damit aufhören konnte, die Nummernschilder und Auspuffgase zu analysieren, die Anzahl der Fahrzeuge jeder erdenklichen Farbe und jeder Marke mitzuzählen und die Körpermaße jeder einzelnen Person, die man in einem der anderen Fahrzeuge erhaschte, zu ermitteln. Und doch hatte sie es irgendwie bis hierhin geschafft, teils dadurch, dass sie sich wie besessen darauf konzentrierte, während der ganzen Fahrt wann immer möglich die genau gleiche Geschwindigkeit beizubehalten.

Die Straße, in der sich nun befand, war ihr bestens bekannt. Zoe kannte die Gebäude hier, wusste, welche davon mehr Stockwerke hatten als die anderen, welche sich durch das Absinken des Fundamentes inzwischen um etwa fünf Grad geneigt hatten und konnte an dem Winkel, in dem das Sonnenlicht auf den Bürgersteig traf, die Uhrzeit ablesen. Sie war schon so oft hier gewesen, dass sie all diese Berechnungen schon mehrfach angestellt hatte. Und als all diese Zahlen nun erneut in ihrem Sichtfeld erschienen, war sie deshalb gerade so dazu imstande, sie zu verdrängen und sich stattdessen auf den eigentlichen Grund für ihr Herkommen zu konzentrieren.

Sie fand direkt davor einen Parkplatz, das allein war bereits ein Wunder. Zoe nahm sich einen kurzen Moment, um ihr Gesicht im RГјckspiegel zu betrachten. Sie war zwar immer noch blass und hatte immer noch Augenringe, aber trotzdem sah sie immerhin ein bisschen besser aus, als noch vorhin. Zu duschen und sich etwas ordentlicher anzuziehen hatte, auf jeden Fall einen Unterschied gemacht, wenn auch nur rein Г¤uГџerlich.

In ihrem Inneren sah es immer noch ganz anders aus. Das konnte man nicht mit einer einfachen Dusche wegspГјlen.

Irgendwie schaffte sie es, sich dazu zu motivieren, die Autotür zu öffnen und auszusteigen. Sie fokussierte ihren Blick dann voll und ganz auf das Bürogebäude, aufgrund dessen sie hergekommen war. Die Augen fest auf die Eingangstür gerichtet folgte sie den Dimensionen, die aus dem Nichts in ihr Sichtfeld drängten, ins Innere.

Dr. Lauren Monks Praxis war im zweiten Stock. Normalerweise empfing sie ihre Patienten dort nur zu im Voraus vereinbarten Terminen. Zoe hatte zwar keinen Termin ausgemacht, aber sie hatte angerufen, um sicherzugehen, dass Dr. Monk trotzdem Zeit haben wГјrde.

Dr. Monk saß an ihrem Schreibtisch, mit der Tür zum Wartezimmer geöffnet, um zu signalisieren, dass gerade niemand bei ihr war. Zoe durchschritt das helle Wartezimmer, es war in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau gehalten, und ging direkt weiter in das Behandlungszimmer, wo ein altbekannter, abgenutzter Ledersessel sie erwartete. Zoe ignorierte den Sessel jedoch und blieb stehen – und mit einiger Mühe gelang es ihr, den Blick zu heben und Dr. Monk ins Gesicht zu sehen, die Zoes Blick erwiderte.

Auch wenn man an Dr. Monks Gesichtsausdruck vielleicht etwas hätte ablesen können, Zoe war dazu nicht in der Lage. Sie nahm nur die Dimensionen des Gesichtes wahr: den Abstand zwischen den Augen, den Winkel, in dem die Augenbrauen gebogen waren, die Länge jedes einzelnen Haares – von all diesen Eindrücken war Zoes Wahrnehmung so sehr überladen, dass sie keine Kapazität mehr dafür hatte, das darunter verborgene menschliche Gesicht ebenfalls zu erkennen. Sie wusste nur, dass Dr. Monk sich seit Zoes letztem regulären Termin hier – mit dem ihre Therapie geendet hatte, weil Dr. Monk keinen weiteren Bedarf mehr dafür gesehen hatte – rein äußerlich in keinster Weise verändert hatte. Sie war die Gleiche geblieben, mit ihrem dunklen Bob, der eine befriedigend gerade Kante hatte, und demselben Schönheitsmal einen Zentimeter oberhalb ihres rechten Mundwinkels.

„Es ist schön, Sie wiederzusehen, Zoe“, sagte Dr. Monk und erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl. Normalerweise nahm sie in den Therapiesitzungen gegenüber von dem schwarzen Ledersessel Platz, um ihren Patientinnen direkt gegenüber zu sitzen, ohne dass etwas zwischen ihnen stand. „Es ist ja schon einige Wochen her.“

„Ich wollte keinen weiteren Termin mehr ausmachen“, sagte Zoe und verschränkte dabei straff die Arme vor der Brust. „Sie hatten ja gesagt, dass es mir jetzt besser ginge.“

„Es ging Ihnen auch besser“, sagte Dr. Monk mit sanfter Stimme. Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, um Zoe unmittelbar gegenüberzustehen. „Aber ein Trauerfall kann auch nach einer äußerst erfolgreichen Therapie einen Rückfall auslösen. Unsere erlernten Bewältigungsmechanismen funktionieren danach eventuell nicht mehr – oder wir sehen einfach keinen Sinn mehr darin, sie überhaupt anzuwenden. Wenn jemand verstirbt, der einem sehr nahe stand, dann ist es ganz normal, noch ein wenig mehr Unterstützung zu brauchen.“

Zoe versuchte erneut, nicht nur die Zahlen wahrzunehmen, sondern Dr. Monks darunter verborgenen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber es gelang ihr auch diesmal nicht. „Ich dachte, ich hätte das jetzt unter Kontrolle.“

Dr. Monks Körperhaltung entspannte sich, die Winkel ihrer Schultern flachten sich ab, wurden geschmeidiger. „Ich würde Sie bitten, einen neuen Termin auszumachen. Und zwar für die nahe Zukunft. Am besten so bald wie möglich.”

„Okay.“ Zoe atmete tief durch. „Aber deshalb bin ich nicht hergekommen.“

Dr. Monk nickte bedächtig. „Ich kann Ihnen ansehen, dass Sie eine ziemlich schwere Zeit durchmachen. Wie viel Schlaf kriegen Sie denn im Moment?“

„Nicht besonders viel.“ Zoe zuckte mit den Schultern. „Ich schlafe erst spät nachts ein und stehe spät wieder auf. Alkohol hilft. Aber dann bin ich am nächsten Tag müde, weshalb ich manchmal auch tagsüber schlafe.“

Dr. Monk nickte erneut, diesmal energischer. Viermal. „Ich vermute, dass Sie in einer schweren depressiven Episode stecken“, sagte sie. Zoe blieb nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen; Dr. Monk kannte sie schließlich sehr gut. Sie wusste nichts über Depressionen – auch nicht, ob der Begriff überhaupt verwendet werden sollte in Fällen, in denen Traurigkeit doch eine vollkommen angemessene Reaktion war. Aber sie vertraute ihrer Therapeutin. „Am besten verschreiben wir Ihnen ein Medikament, das Ihnen dabei hilft, etwas besser damit zurechtzukommen. Ich stelle Ihnen jetzt gleich ein Rezept aus und bei unserem nächsten Termin können wir dann genauer darüber sprechen.“

Zoe nickte und ahmte dabei den Rhythmus nach, den sie bei ihrer Ärztin beobachtet hatte: Eins, zwei, drei, vier – und stopp. „Ich mache noch diese Woche einen Termin aus.“

Dr. Monk zögerte, biss sich auf die Unterlippe. Sie tippte sich mit ihrem Kugelschreiber auf die Haut neben der Lippe, in der anderen Hand hielt sie das noch unausgefüllte Rezept. „Wie viel trinken Sie zur Zeit?“, fragte sie .

Zoe zuckte erneut mit den Schultern. „So viel wie nötig ist, um die Zahlen zu betäuben.“

Zoe sah, wie der Umfang von Dr. Monks Augen sich vergrößerte. Die Haut hob sich mit ihren Augenlidern, die Winkel der Krähenfüßchen, gerade so an ihren Augenwinkeln sichtbar, änderten sich. „Also gut.“ Sie kritzelte mit einer schnellen Handbewegung etwas auf das Rezept, dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und kramte in einer der Schubladen herum. „Also, ich möchte, dass Sie dieses Rezept einlösen, aber ich denke auch, dass sie etwas brauchen, um das Problem sofort in den Griff zu bekommen. Hiermit können Sie die Zwischenzeit überbrücken.“

Sie richtete sich mit einem Tablettenstreifen in der Hand auf, deren Silberfolie das durch die großen Fenster hereinströmende Licht reflektierte. Sie streckte die Hand aus, um Zoe die Tabletten hinzuhalten und Zoe nahm sie mit einer mechanischen Bewegung entgegen.

„Beginnen Sie heute Abend mit der Einnahme“, fuhr Dr. Monk fort. „Zu jeder Mahlzeit eine – morgens, mittags, abends. Nicht auf nüchternen Magen nehmen. Und bitte keinen Alkohol mehr trinken, okay? Davon sollten die Zahlen ebenfalls betäubt werden. Sollte man aber nicht mit Alkohol kombinieren. Geht das in Ordnung?“

Zoe nickte. „Ich fange heute Abend damit an“, sagte sie.

Dr. Monk atmete zögerlich durch. „Was haben Sie jetzt als nächstes vor? Hätten Sie Zeit für eine Therapiesitzung?“

„Ich fahre zur Arbeit“, sagte Zoe.

„Sie sind wieder im Dienst?“, Dr. Monk klang erschrocken.

„Nein. Meine Suspendierung ist gestern abgelaufen, aber ich bin nicht zum Dienst erschienen.“ Zoe atmete ebenfalls durch. „Ich muss allerdings mit meinem Chef reden.“

Dr. Monk nickte. „Okay. Dann machen Sie das. Aber ich möchte Sie möglichst bald wieder hier sehen.“

„Verstanden.“ Zoe machte sich auf den Weg zum Ausgang, die Tabletten hielt sie immer noch fest in der Hand. Sie traute sich nicht, sich noch einmal nach Dr. Monk umzusehen, denn die Zahlen krabbelten wie Ameisen über ihr Gesicht und Dr. Monk war sich ihrer Existenz noch nicht einmal bewusst.

Wieder im Auto angekommen, schnappte sich Zoe eine der Wasserflaschen, die sie im Türfach lagerte, und spülte damit eine der Pillen herunter. Sie konnte damit nicht warten. Um es durch ihr Gespräch mit Maitland zu schaffen, war sie jetzt auf ihre Unterstützung angewiesen.


***

Das J. Edgar Hoover-Gebäude hatte eine beruhigend komprimierte und geometrische Form, mit allerhand gerade Linien im unauffälligen Grau des Betons. Das gefiel Zoe, genau wie das Layout des Gebäudes: alles war symmetrisch angeordnet, mit identischen Designs auf den einzelnen Stockwerken, sodass man im Zweifel immer raten konnte, wo man langgehen musste. Das beruhigte sie ein wenig. Während sie darauf wartete, dass die Tablette ihre Wirkung auf die Zahlen entfaltete, hatte sie es so immerhin nur mit solchen Zahlen zu tun, die nicht ganz so störend waren.

Sie hatte damit gerechnet, eine Weile warten zu mГјssen, aber nachdem sie dreimal an die TГјr geklopft hatte, an der SAIC Leo Maitlands Name stand, forderte er sie unverzГјglich auf, einzutreten.

Zoe hatte also keine Zeit, nervös zu werden und griff sofort nach der Türklinke, drückte sie herunter und betrat den Raum. Das war auch besser so, dachte sie. Sie war es gewohnt, voller Anspannung draußen warten zu müssen und sich in der ganzen Zeit immer wieder zu fragen, weshalb sie wohl diesmal ermahnt werden würde, aber so konnte sie direkt eintreten und mit dem Gespräch beginnen.

„Agent Prime.“ Maitland richtete sich mit einiger Überraschung auf. Er legte die Unterlagen, die er gerade gelesen hatte, auf seinem Schreibtisch ab und sah zu ihr hinüber. „So bald hatte ich nicht wieder mit Ihnen gerechnet.“

Zoe nickte, denn sie wusste nicht, wie sie sonst darauf hätte reagieren sollen. „Ich habe mir die Akte zu dem Fall angesehen.“

„Und?“ Maitland legte seine Hände vor sich auf dem Schreibtisch ab, ordentlich ineinander gefaltet, geradezu erwartungsvoll. Zoe sah kurz zu den Händen hinüber, wodurch allerhand Winkel und Maße in ihrem Blickfeld erschienen, schaffte es aber, ihren Blick wieder von ihnen abzuwenden.

„Ich bin neugierig geworden“, sagte sie. „Nicht, dass ich den Fall annehmen will. Ich wollte bloß wissen, warum Sie mir die Akte gegeben haben.“

Maitland starrte sie für eine ganze Weile an, seine Miene unlesbar unter den Winkeln seiner Nase und Wangenknochen und deren Schnittpunkt mit den Linien seines Schädels an seiner Stirn. „Sie… waren schon immer die Beste für diese Art von Ermittlungen“, sagte er mit schroffer, aber ruhiger Stimme. „Sie glauben doch nicht, dass mir nicht aufgefallen ist, wie gut Sie mit Fällen klarkommen, in denen es nicht um nullachtfünfzehn Serienmörder geht. Wenn es skurril wird, sind Sie besonders gut. Wenn wir über den Tellerrand hinaussehen müssen. Es mit intelligenten Tätern zu tun haben. Mit Tätern, die anders denken.“

Zoe dachte über seine Worte nach. Es stimmte, was er gesagt hatte. Aber sie wusste nicht, ob es ihr auch gefiel. Ob er sie damit indirekt nicht einfach als sonderbar bezeichnet hatte. „Ja, ich habe schon an einer Reihe ähnlicher Fälle gearbeitet“, gab sie zu, womit sie ihm nicht vollständig recht gab und auch nicht zusagte, diesen Fall zu übernehmen.

„Ich möchte Sie zu nichts drängen, Agent Prime“, sagte Maitland. „Wenn Sie die Arbeit wieder aufnehmen, aber noch gar nicht bereit dafür sind, dann könnte das schlimm enden. Für uns beide. Aber ich denke auch, dass ich Sie gut genug kenne, um zu wissen, dass es Ihnen am besten geht, wenn Sie ein Rätsel vor sich haben, das Sie knacken müssen. Ich sage es ganz offen: Ich wünsche mir, dass Sie diesen Fall übernehmen. Um ehrlich zu sein gibt es niemanden sonst, dem ich es so sehr zutrauen würde, diesen Fall zu lösen, wie Ihnen.“

Zoe hielt einen Moment inne, denn ihre Gedanken überschlugen sich. Es war schwer genug, sie überhaupt zu hören, zwischen all den Zahlen, die ihr die Dezibels, Wortlänge, Silben und die Ausmaße des Tisches und allem darauf mitteilten. Und als Zoe sie dann hörte, war sie sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Es wäre sicher sinnvoll, sich die Zähne an etwas Neuem auszubeißen, anstatt innerlich immer und immer wieder die gleichen Probleme und Sorgen durchzukauen. Dadurch konnte sie die Zahlen für etwas sinnvolles nutzen, so wie sie es früher getan hatten, indem sie sie auf Verdächtige und Tatorte und so weiter anwendete.

Es wГјrde ihr guttun, etwas Positives zu bewirken. Vielleicht das ein oder andere Leben zu retten.

Zumindest, wenn dadurch auГџer ihr niemand sonst in Gefahr geriet.

„Ich übernehme den Fall“, sagte sie zögerlich. Maitlands Gesicht erhellte sich. Er konnte sich zwar immer noch kein Lächeln abringen, aber seine ansonsten geradezu versteinerte Mimik war doch einem ungewohnt munteren Gesichtsausdruck gewichen. Zoe fuhr allerdings unbeirrt fort, damit der wichtigste Teil dessen, was sie sagen wollte, nicht unterging. „Aber allein. Ich möchte nicht, dass mir ein neuer Partner zugeteilt wird. Ich mache das im Alleingang.“

Maitland neigte seinen Kopf um zehn Grad weiter zur Seite als zuvor, außerdem verengten sich seine Augen um fünfzehn Prozent. „Sie wissen doch, dass das nicht geht, Agent Prime.“

„Ich habe auch in der Vergangenheit schon allein ermittelt“, merkte Zoe an. Das stimmte. Vor ihrer Zeit mit Shelley, als sie zwischenzeitlich keinen Partner hatte, weil niemand mit ihr zurechtkam, hatte sie gezwungenermaßen jede Menge Fälle allein bearbeiten müssen. Denn es wollte einfach niemand mit ihr zusammenarbeiten. Das dauerte immer so lange, bis ihr vorübergehend einer der neuen Rekruten zugeteilt wurde. Und dann wiederholte sich das Ganze.

„Aber nicht in einem Fall diesen Ausmaßes“, sagte Maitland. „Nur bei unkomplizierten Verbrechen. Und außerdem nicht unmittelbar, nachdem Ihre Partnerin verstorben ist. Es tut mir leid, Zoe. Ich sage ja gar nicht, dass Shelley ersetzt werden soll. Oder dass man sie jemals ersetzen könnte. Aber Sie werden in diesem Fall mit einem anderen Ermittler zusammenarbeiten müssen.”

Zoe sah zum Boden hinab, wo nicht so viele Zahlen zu sehen waren. „Ich würde wirklich ungern mit jemand Neuem zusammenarbeiten.“

„Ich habe aber leider schon jemanden ausgesucht. Er wird perfekt zu Ihnen passen, versprochen.“ Maitland erhob seine Stimme, um etwas in Richtung der Tür zu rufen. „Wenn Sie schon da draußen warten, Agent Flynn, dann können Sie jetzt reinkommen. Es ist jetzt an der Zeit, dass Sie beide sich kennenlernen.”




KAPITEL FГњNF


Zoe drehte ihren Kopf gerade rechtzeitig zur Seite, um sehen zu können, wie sich die Tür öffnete. Ein junger Mann in einem dunklen Anzug betrat den Raum. Er war eins neunzig groß, dünn, aber mit einem eng anliegenden Anzug, der zu erkennen gab, dass sich darunter Muskeln befanden. Außerdem hatte er schwarzes Haar und ein fernsehreifes Grinsen voller strahlend weißer Zähne. Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt. Zoe konnte ihn auf Anhieb nicht ausstehen.

„Agent Aiden Flynn“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen, sein Gesicht dabei immer noch von einem breiten Grinsen überzogen.

Zoe nahm seine Hand und schüttelte sie leidenschaftslos und erfasste dabei die Maße seines Gesichts und die Winkel seiner hohen Wangenknochen. Er sah von Kopf bis Fuß so aus, als würde er Probleme machen. Sein Anzug saß so gut, mit normalen Kleidergrößen war das nicht möglich; er war also nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert. Dieser Kerl kam also sicher aus einer reichen Familie. Seine Hand fühlte sich weich an und Zoe war nicht auf die Hilfe der Zahlen angewiesen, um erkennen zu können, dass seine Schuhe brandneu waren.

Zoe warf Maitland einen vorwurfsvollen Blick zu. „Das ist sein erster Einsatz“, sagte sie.

„Frisch aus der Ausbildung“, erwiderte Maitland. Er streckte seine Arme aus und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Sein Rücken blieb dabei vollkommen gerade, nur sein Hüftgelenk bewegte sich.

„Ich möchte nicht die Babysitterin spielen“, blaffte Zoe und klang dabei vermutlich etwas barscher, als sie es gewollt hatte. Maitland konnte sich schließlich immer noch dazu entscheiden, ihr den Fall doch nicht zu überlassen. „Dieser Täter muss ernst genommen werden. Wir müssen ihn so schnell wie möglich schnappen.“

„Das schaffe ich“, ging Agent Flynn hastig dazwischen. „Ich war der Beste meines Jahrgangs. Ich werde mich schnell zurechtfinden.“

„Wie alt sind Sie?“, fragte Zoe. „Dreiundzwanzig?“

„Ja“, antwortete Agent Flynn verwundert. „Woher wussten Sie –“

„Der ist ja noch ein Kleinkind“, sagte Zoe wieder an Maitland gerichtet.

Er hatte seine Mundwinkel nach oben gezogen, um etwas einen halben Zentimeter, wodurch sich die Winkel in seinem Gesicht veränderten. „Agent Prime, Ich gebe Ihnen zwei Optionen“, sagte er. „Entweder arbeiten Sie mit Agent Flynn an diesem Fall, oder Sie arbeiten gar nicht daran. Wofür entscheiden Sie sich?“

Zoe sah zu Flynn herüber und überall in seinem Gesicht wimmelte es nur so vor Zahlen. Er war zu neu. Es gab zu viel zu entdecken. Er schien ganz aus spitzen Winkeln zu bestehen, seine Knochen waren kräftig und kantig, sein Anzug war perfekt geschnitten. Bei Leuten, die sie gut kannte, konnte sie mit der Zeit immerhin die Zahlen ausblenden, die immer gleich blieben. Sie konnte unmöglich mit ihm zusammenarbeiten.

Allerdings hatte sie bei der Arbeit – von Shelley abgesehen – nie jemandem von den Zahlen erzählt. Man hielt Zoe ja ohnehin schon für einen Freak, das wollte sie nicht noch weiter befeuern. Aber das bedeutete auch, dass sie die Zahlen nun nicht als Ausrede anführen konnte. Dass sie Maitland nicht sagen konnte, dass sie um sich herum sowieso schon überall nichts als Zahlen sah – zum Beispiel auf seinem Schreibtisch, der förmlich davon überladen war – und dass sie davon bereits genug abgelenkt wurde.

Zoe war sich bewusst, dass ein solches Eingeständnis sie nicht nur wie einen Freak dastehen lassen würde, sondern dass sich Maitland wahrscheinlich auch dazu gezwungen sehen würde, sie für arbeitsunfähig zu erklären und von ihr zu verlangen, an Therapiesitzungen mit einem vom FBI bereitgestellten Therapeuten teilzunehmen – vielleicht würde er sie sogar in eine psychiatrische Einrichtung einweisen lassen. Das konnte sie nicht riskieren.

„Sie lassen mir keine Wahl?“, sagte sie also stattdessen. Ein Versuch, herauszufinden, ob es auch nur die geringste Chance gab, der Zusammenarbeit mit diesem neuen Partner zu entgehen.

„Natürlich lasse ich Ihnen eine Wahl“, sagte Maitland. „Entweder, Sie machen sich gemeinsam auf dem Weg zum Flughafen, oder Sie gehen wieder nach Hause. Ich kann dafür sorgen, dass Sie schon in ein paar Stunden vor Ort sind. Also, wie lautet Ihre Entscheidung?“

Zoe seufzte. Ihr war klar, wofür sie sich entscheiden musste. Mit diesem neuen Idioten konnte sie nicht zusammenarbeiten. Mit ihm und seinen funkelnden Schuhen und seinem Tausend-Dollar-Lächeln. Aber genauso wenig konnte sie jetzt einfach wieder zurück nach Hause gehen, nicht, wo sie dort nur mit ihren Katzen auf dem Sofa hocken und ins Leere starren würde, nur um nachts Shelleys Familie zu stalken. Sie hatte eine Verpflichtung, nicht nur ihrer verstorbenen Partnerin, sondern auch den Mordopfern gegenüber, denen Gerechtigkeit zustand. Und gegenüber denen, die dem Täter in den nächsten Tagen und Wochen zum Opfer fallen würden, wenn man ihn nicht schnappte.

Die Katzen wГјrden ohne sie zurechtkommen. Ihr Futterautomat wГјrde sicherstellen, dass sie versorgt waren. Und auch sonst gab es auf der ganzen Welt niemanden, der auf sie angewiesen war. Zumindest nicht so sehr wie dieser Fall.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Bedenken herunterzuschlucken und das Ganze trotzdem durchzuziehen. Sie wusste, dass Shelley es so gewollt hätte.

Und so öffnete sie den Mund, um den beiden Männern das mitzuteilen – auch wenn sie jedes einzelne Wort nur widerwillig über die Lippen brachte.


***

Zoe warf noch einen weiteren Blick auf die Akte, um sich mit dem Fall weiter vertraut zu machen. Es war zwar nur ein kurzer Flug, aber sie hatte dennoch genug Zeit, um sich die Details einzuprägen und sich erste Gedanken über die nächsten Schritte zu machen, die folgen würden, wenn sie gelandet waren. Zunächst einmal würden sie sich etwa den letzten Tatort und die beiden Leichen ansehen.

„Können Sie mir die Akte vorlesen?“ Flynn, der neben ihr saß, hatte schon die ganze Zeit versucht, einen Blick auf die Dokumente zu erhaschen, während sie die Akte durchblätterte. Seine langen Beine waren in einem ungünstigen Winkel in dem engen Flugzeugsitz eingeklemmt, seine Ellbogen waren spitze Kanten, die ständig drohten, in ihren persönlichen Raum einzuschränken. „Ich möchte gut vorbereitet sein.“

Zoe seufzte innerlich und wünschte sich nichts mehr, als dass er sie in Ruhe lassen würde. Aber das war keine unzumutbare Bitte. Er wusste ja nicht, dass sie das, was sie sah, für ihn sozusagen übersetzen musste. Um die Zahlen, die sie überall sah, herauszuschneiden. Sie musste es ihm praktisch wie ein Roboter vorlesen. Ohne Kontext oder Flexion, nur die Worte, wie sie vor ihr auf dem Papier standen. Für sie war es genauso schwer, die Akte so zu lesen, wie es für ein Kleinkind gewesen wäre, sie überhaupt zu entziffern.

„Die erste Leiche wurde nördlich von Syracuse gefunden, die zweite in Syracuse selbst“, sagte sie. „Das erste Opfer war eine einundvierzigjährige Frau namens Olive Hanson, erdrosselt und dann am Ufer des Flusses Oneida zurückgelassen, wo sie wohl zuvor wandern war.“

Zoe reichte ihm die Fotos vom Tatort, die sie sich bereits genauer angesehen hatte. Die Frau am Ufer ausgestreckt, ihr Hals violett, während der Rest von ihr weiß und schmierig war und ihre Augen ins Leere starrten. Dann das letzte Bild: Ihr entblößter Bauch. Das Oberteil war, als einzige erkennbare Veränderung an ihrer Kleidung, nach oben geschoben worden, sodass darunter das in ihr bereits totes Fleisch geschnittene Symbol zum Vorschein kam. Es stach deutlich hervor, wie es solche Dinge immer taten. Eine rote Wunde inmitten weißer, blasser Haut, in deren schmalen Streifen das darunter verborgene Fleisch gerade so zu erkennen war.

Zoe blieb mit dem Blick auf Flynns Händen. Sie war nicht dazu in der Lage, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, nicht so lange sie von all den Winkeln und Berechnungen abgelenkt wurde, die ihr mit jeder seiner Bewegungen ins Auge sprangen. Aber sie konnte erkennen, ob seine Hand zittern würde. Und sie sah ein Zittern, als er zu dem letzten Foto geblättert hatte: ein Tremor in seiner Hand, durch den das Blatt Papier für einen Augenblick wackelte, gerade stark genug, um sichtbar zu sein. Das Foto hatte ihn schockiert.

Das war eigentlich eher ein Vorteil. Wenn er Angst bekommen würde, dann wäre er womöglich leichter zu kontrollieren. Würde eher die Klappe halten, wenn sie Ruhe zum Nachdenken brauchte. Außerdem zeigte es seine Menschlichkeit – es bedeutete, dass er Mitgefühl hatte, von dem man Zoe oft vorwarf, dass es ihr fehlte. Zynisch betrachtet war es gut für sie, jemanden mit Mitgefühl dabei zu haben, der mit den Familien der Opfer sprechen konnte. Wenn man den Familien das Gefühl gab, dass man ihren Schmerz verstand, dann sagten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit.

Zoe nahm die nächsten paar Seiten aus der Akte und las sich die Informationen zu dem anderen Opfer durch. „Das zweite Opfer ist ebenfalls eine Frau. Eine Astronomin namens Elara Vega, die in dem Planetarium, in dem sie gearbeitet hatte, tot aufgefunden wurde. Neunundfünfzig Jahre. Todeszeitpunkt wird auf den späten vorherigen Abend geschätzt. Sie wurde in einem Putzwagen ertränkt.“

Die Fotos dazu zeichneten ein ähnliches, wenn auch nicht ganz identisches, Bild wie die zu dem ersten Mord. Die Leiche lag ausgestreckt wie sie gefallen war, ihre Haar noch nass davon, dass ihre Kollegen sie vom Putzwagem weggezogen hatten, um ihren Puls zu fühlen. Auch ihr Oberteil war hochgezogen, die unteren Knöpfe aufgemacht, damit der Mörder das Symbol in ihre Haut ritzen konnte. Eine scharfe, horizontale Linie und zwei Linien nach unten.

„Also gibt es von dem Symbol abgesehen keine großen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Morden“, sagte Flynn. Er sah aufmerksam zwischen den Fotos zu den beiden Fällen hin und her und verglich sie miteinander. „Keine Übereinstimmung bei Tatort, Methode, Frauentyp – außer, dass beide schon älter waren. Aber die Polizei vor Ort denkt, dass die Fälle zusammenhängen.“

„Sie hängen eindeutig zusammen“, sagte Zoe ruhig, bemüht, ihn nicht anzupflaumen. „Das Symbol ist eine Art Visitenkarte oder Markenzeichen. Dadurch wird markiert, dass die Taten von derselben Hand begangen wurden.”

„Hmm.“ Flynn reichte ihr die Fotos zurück und beobachtete, wie Zoe sie wieder in den Ordner steckte. „Hey, ich habe gehört, dass Sie schon lange im Dienst sind.“

„Ich bin Ihnen zehn Jahre voraus“, antwortete Zoe. Sie wandte den Kopf ab und sah aus ihrem Fenster. Es wäre großartig, wenn Flynn die Klappe halten könnte. So lange sie nach draußen sah und es ihr dabei gelang, die Fensterscheibe selbst zu ignorieren, konnte sie sich auf das weiße, fluffige Nichts der Wolken konzentrieren. Dort gab es keine Zahlen.

„Sie hatten auch schon viele verschiedene Partner, oder?“, fragte Flynn. „Man hat mir von Ihnen erzählt, nachdem ich Ihnen zugewiesen wurde.“

Zoe erstarrte. Wenn er sie etwas zu Shelley fragen sollte, dann würde sie aufstehen, in den vorderen Bereich des Flugzeugs gehen und so tun, als ginge sie auf die Toilette. Sie wollte das nicht tun – das enge Badezimmer würde von Zahlen überladen sein, all die klitzekleinen Maße eines Zimmer, das auf die größe eines Schrankes zusammengeschrumpft wurde –, aber das wäre immer noch besser, als über Shelley sprechen zu müssen. Niemand sprach gern über sein größtes Versagen. Nicht, wenn es erst so kurze Zeit zurücklag und noch so schwer auf den Schultern lastete.

„Man hat mir auch gesagt, dass Sie eine der Besten sind, wenn es um das Lösen solch komplizierter Fälle geht.“, sagte er. Er war näher an sie herangerückt, fast unmerklich. Fast – aber nicht, wenn man die Millimeter mitzählte. „Sie gelten da als eine Art Genie oder sowas.“

„Tue ich das?“ fragt Zoe emotionslos. Sie wollte ihm nicht in die Falle gehen.

„Ja, ernsthaft. Die haben gesagt, dass ich eine Menge von Ihnen lernen würde.“

„Wen meinen Sie mit ‚die�?“, fragte Zoe und drehte sich zu ihm und sah ihn mit bösem Blick an. Sie wollte wissen, wer hinter ihrem Rücken über sie sprach – auch wenn das keinen großen Unterschied machen würde. Das übermütige Lächeln auf Flynns Gesicht verschwand, die Muskeln um seinen Mund herum verzogen sich nach unten.

„Ähm, also, einfach alle“, sagte Flynn, jetzt mit Verunsicherung in der Stimme. Er rutschte nun wieder ein Stück in die andere Richtung, zurück in seine Ausgangsposition. „Also, was ich sagen wollte, wir lösen den Fall doch wahrscheinlich ziemlich schnell, oder? Wir beide zusammen? Vielleicht kann ich ja die Führung übernehmen und Sie sagen mir, wenn ich irgendetwas übersehe.“

Zoe starrte ihn noch ein wenig länger an, von nur einem einzigen Blinzeln unterbrochen, dann wandte sie sich wieder von ihm ab, um weiter aus dem Fenster zu sehen.

Sie mochte ihn nicht, diesen Aiden Flynn. Er war überheblich, vielleicht sogar überheblicher als die meisten anderen Anfänger. Ein Neuling, der seine eigenen Grenzen noch nicht kannte. Das hatte wahrscheinlich mit seiner Herkunft zu tun. Es war unwahrscheinlich, dass er jemals ein Nein gehört hatte.

Sie hatte kein Interesse daran, ihm irgendetwas über sich anzuvertrauen, schon gar nicht ihre besonderen Fähigkeiten. Ob die nun ein Segen oder ein Fluch für sie waren, da war sie sich selbst noch nicht sicher, aber diesem Fremden würde sie davon jedenfalls nichts erzählen. Das lag nicht nur daran, dass sie diese Dinge nie mit irgendwem teilte, sondern auch daran, dass es eine Beleidigung für Shelley gewesen wäre. Nur eine einzige Partnerin im Laufe ihrer gesamten Karriere hatte sie jemals dazu gebracht, etwas über sich erzählen zu wollen.

Dieser arrogante junge Mann mit seinem glänzenden Haar und seinem maßgeschneiderten Anzug würde sicher kein Mitglied dieses illustren Klubs werden.

Was bedeutete, dass Zoe nun ein Kampf an zwei Fronten bevorstand: Sie musste nicht nur die Zahlen überwinden, die ihr überall begegneten, wo immer sie auch hinsah, was auch immer sie hörte. Nein, um den Fall lösen zu können, musste sie auch vor ihm verbergen, wie sie es schaffte, ihn zu lösen.

Zoe sah weiterhin nur zu den Wolken und genoss das bisschen Ruhe, dass sich ihr dadurch vor dem Beginn des Sturms bot. Es würde kein einfacher Fall werden. Dennoch hoffte sie, dass sie ihn schnell lösen würde, damit sie ihren neuen Partner nicht mehr allzu lange ertragen musste.




KAPITEL SECHS


Zoe zog den Sicherheitsgurt erneut von ihrem Hals weg und versuchte, ihn noch fester in der Hand zu halten. Sie musste einige Male tief einatmen, um ihren Magen zu beruhigen. Sie hatte es noch nie besonders gemocht, Beifahrerin zu sein – sie wurde davon immer reisekrank –, aber mit dem Neuen am Steuer war es noch schlimmer als sonst. Er ging viel zu schnell in die Kurven und beschleunigte auf gerader Strecke stark, obwohl er in einem ihm unbekannten Gebiet fuhr. Immer dann, wenn ihm das Navi sagte, dass er abbiegen sollte, musste er in einem engen Radius und bei hoher Geschwindigkeit abbiegen, um die Ausfahrt nicht zu verpassen. Es war schon fast ein Wunder, dass er noch nicht dazu übergegangen war, die Handbremse zu benutzen und um die Kurven zu schlittern .

„Hier ist es wohl“, sagte Flynn. Er hatte den Kopf nach vorne gebeugt, um besser sehen zu können. Sie fuhren vor einem Polizeirevier vor. Von einigen Streifenwagen und einem einzigen Reporter in einem dicken Mantel abgesehen, war es vor dem Gebäude ruhig.

Zoe atmete erleichtert durch, als sie den Sicherheitsgurt endlich loslassen konnte. Selbst als sie zum Stehen kamen, war der Druck des Gurts auf ihren Hals noch so groß, dass ihr davon übel wurde, bis sie sich abschnallte und den Gurt losließ. Wegen der Kombination aus Übelkeit, den immer noch am Rande ihres Bewusstseins nachklingenden Kopfschmerzen und den Zahlen, die sich in ihr Sichtfeld drangen, war Zoe erschöpft und unkonzentriert. Am liebsten wäre sie einfach sitzengeblieben und hätte sich ein wenig ausgeruht, vielleicht ein bisschen geschlafen – aber dazu gab es natürlich keine Gelegenheit.

Der Neue war bereits dabei, auszusteigen, also schloss Zoe sich ihm widerwillig an. Sie konnte es sich nicht leisten, ihm hinterherzuhinken, nicht hinter einem Partner, der noch gar nicht wusste, was er tat. Sie hatte in der Vergangenheit bereits häufiger Berufseinsteiger frisch aus der Ausbildung als Partner zugeteilt bekommen. Die wollten immer überhastet überall reinplatzen und sofort beweisen, was sie drauf hatten. Und gleichzeitig immer alles ganz genau nach Vorschrift machen. Unwillig, von den starren Strukturen abzuweichen, die ihnen beigebracht worden waren. Das bedeutete, dass es stressig für sie werden würde – und es viel zu diskutieren geben würde. Genau das, was ihr in ihrer jetzigen Lage noch gefehlt hatte.

Sie holte Flynn kurz vor der doppelten Schwingtür des niedrigen, grauen Polizeigebäudes wieder ein. Es wurde langsam spät; ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass es bereits kurz nach sieben war, die Sonne war zudem längst untergegangen. Das künstliche, gelbe Licht von der Sicherheitsbeleuchtung rund um das Gebäude sorgte dafür, dass es weiterhin gut sichtbar war, aber um die einzelnen Glühbirnen herum hatten sich winzige Fliegen und Motten versammelt, die im unwiderstehlichen Sog des Lichts hin und her tanzten. Der Reporter, der sich die Hände rieb und auf und ab sprang, um sich warm zu halten, hatte sie zwar bemerkt, sprach sie aber nicht an.

Eine Rezeptionistin in einer Fleecejacke sah zu ihnen auf, nachdem sie das Gebäude betreten hatten und nahm das Ende eines Stiftes aus dem Mund. „Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie. Zoe bemerkte, dass sie in jedem Ohr drei Ohrringe trug und dass ihre Fingernägel fünf Zentimeter lang und aus mit einem aufwändigen, gefleckten Muster bemaltem Plastik waren.

Sie öffnete den Mund und wollte gerade antworten, stellte dann aber fest, dass eine andere Stimme aus ihrem Mund zu kommen schien. „Wir sind vom FBI“, sagte Flynn und zeigte zum Beweis seine Dienstmarke. „Wir haben einen Termin mit dem Sheriff.“

Die Rezeptionisten nickte desinteressiert und griff zu dem Telefon auf ihrem Tresen. Sie sprach einige Worte in den Hörer, Zoe war jedoch zu sehr damit beschäftigt, die Spiralen in dem Kabel daran zu zählen, um etwas zu hören. Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm die Empfangsdame wieder ihren Stift in den Mund, ging dazu über, Flynn und Zoe zu ignorieren und begann, etwas zu lesen, dass sie knapp außer Sichtweite vor sich liegen hatte.

Als sie Schritte hörte, drehte sich Zoe ungeduldig um. Ein Stück weiter den Flur entlang öffnete sich eine Tür und eine Frau trat hindurch. Sie trug eine braune Sherriffsuniform mitsamt Funkgerät und Dienstwaffe am Gürtel. Sie war etwa fünfundfünfzig Jahre alt und hatte ihre bereits leicht ergrauten Haare scheinbar nachgefärbt, denn an den Wurzeln war ein etwa zweieinhalb Zentimeter langes Stück Grau nachgewachsen.

Zoe schätzte ihre Größe auf eins siebenundsechzig, womit sie zehn Zentimeter kleiner war, als Zoe selbst. Sie wog etwa achtundsechzig Kilo und hatte einen entschlossenen Gang – wenn auch leicht nach vorn gebeugt, mit leicht gekrümmtem Rücken.

„Sheriff Danielle Petrovski“, sagte sie mit starkem New Yorker Akzent und streckte eine Hand vor sich aus. Sie hielt die Hand zunächst Zoe hin, was eine angenehme Überraschung war, denn die meisten Menschen wären automatisch davon ausgegangen, dass der Mann der Vorgesetzte sein musste.

„Special Agent Zoe Prime“, sagte Zoe und schüttelte die ausgestreckte Hand, während sie mit ihrer anderen ihre Dienstmarke zeigte. Sie schüttelte die Hand mit einem kräftigen Händedruck und berechnete dabei, mit welchem Kraftaufwand Sheriff Petrovski den Händedruck erwiderte. „Das ist Special Agent Adrian Flynn.“

„Aiden“, korrigierte er sie, während er mit dem Händeschütteln an der Reihe war. Zoe zeigte keine Reaktion. Es wäre nicht angebracht, ihn merken zu lassen, dass sie diesen Fehler mit Absicht begangen hatte, um ihn im Zaum zu halten.

„Wollen Sie gleich loslegen oder wollen Sie sich erstmal ein Motelzimmer für die Nacht suchen?“, fragte Petrovski und sah erwartungsvoll zwischen den beiden hin und her.

„Wir legen gleich los“, sagte Zoe und ignorierte damit, was Flynn zu sagen hatte. Er war Anfänger. Wahrscheinlich hätte er sich schlafen legen wollen. „Wenn wir damit anfangen könnten, uns den Tatort anzusehen?“

„Selbstverständlich.“ Sheriff Petrovski nickte. Sie klopfte sich auf eine ihrer Taschen, womit sie klar machte, dass sich darin Schlüssel befanden. „Ich fahre Sie hin, sofern Ihnen das recht ist. Der Tatort ist etwa zehn Minuten entfernt.“

Zoe stimmte nickend zu, dann verfiel sie wieder in Schweigen, während sie sich umdrehten und wieder in Richtung Ausgang und Parkplatz liefen. Sie gestattete Flynn nun zu sprechen und Fragen zu stellen. Keine der Fragen und auch keine der Antworten, die er darauf erhielt, gaben ihnen irgendwelche Informationen, die über das hinausgingen, was bereits in der Akte gestanden hatte. Er war noch zu unerfahren, um sofort mit den Ermittlungen beginnen zu wollen. Er wollte zunächst die Informationen verifizieren, die man ihm gegeben hatte, so wie man es ihm beigebracht hatte. Er wusste noch nicht, wie man nach neuen Details bohrte.

Nicht, dass Zoe je besonders gut darin gewesen wäre, aus Menschen neue Informationen herauszupressen, aber sie fand die Antworten auf ihre Fragen anderswo.

Sie war damit einverstanden, sich auf die Rückbank des Wagens von Sheriff Petrovski zu setzen, auch wenn dort normalerweise nur Verbrecher saßen. Es war angenehm, von den Vordersitzen abgetrennt zu sein, das diente ihr als Vorwand, weiterhin nicht am Gespräch teilzunehmen. Stattdessen schaute sie aus dem Fenster und sah sich die vorbeiziehende Landschaft an: Die Bäume quollen bereits über vor orangen und braunen Blättern, die jetzt zu Boden segelten und kahle Äste und Zweige zurückließen. Die welken Blätter lagen in verwehten Haufen, wo sie vorher von irgendeinem Freiwilligen zusammengefegt worden waren, der wohl irgendwie der zynischen Einsicht entkommen war, dass morgen weitere Blätter fallen würden und dass ein einziger Windstoß seine ganze Arbeit zunichte machen konnte.

Die Straßen waren größtenteils leer; die klirrende Kälte sorgte dafür, dass sich die meisten Menschen drinnen aufhielten, wenn sie nicht unbedingt draußen sein mussten. Die Landschaft zwischen den einzelnen Gebäuden war zu dieser Jahreszeit grau und kahl, geradezu leblos. Zoe lehnte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe und sah desinteressiert weiter nach draußen.

Als sie schließlich ankamen, das Gerede des Neuen für Zoe inzwischen wenig mehr als ein Rauschen im Hintergrund, war sie kurz davor, einzuschlafen – wenn da nicht die Zahlen gewesen wären. Und der damit verbundene Drang, immer weiter zu zählen.

Aus dem Auto ausgestiegen standen sie nun auf einem weiteren kalten Parkplatz, diesmal vor einem Gebäude mit Kuppeldach, das auf einer dramatischen Anhöhe des Stadtgebietes stand. Durch seine überdimensionale Architektur einschließlich prachtvoller Säulen zu beiden Seiten des Eingangs hatte es etwas Theatralisches an sich.

Zoe und Flynn folgten Sheriff Petrovski, die vor ihnen die Doppeltür aufschloss, und duckten sich dabei auf beiden Seiten der Eingangstüren unter Absperrband hinweg. Drinnen war es zunächst vollkommen dunkel, bis Sheriff Petrovski neben der Tür nach einem Lichtschalter tastete, ihn schließlich fand und damit das Licht einschaltete.

Zoe atmete tief ein. Während die Luft in ihre Nase strömte, sah sie sich im Zuschauerraum genauer um und verschaffte sich damit einen ersten Eindruck von der Umgebung. Eine ganze Reihe von Zahlen überfluteten ihre Sinne und gaben ihr alle Informationen, die sie brauchte.

„Wir haben bisher lediglich die Leiche abtransportiert“, sagte Sheriff Petrovski gerade. „Darüber hinaus haben wir nichts weiter angerührt. Wir haben das Gebäude direkt nach unserer Ankunft abgeriegelt. Auf dem Revier liegen die Fotos, die wir von allem gemacht haben.“

Zoe näherte sich dem abgesperrten Bereich in der Mitte des Raumes. Da die gesamte Bestuhlung des Raumes in diese Richtung zeigte, wirkte es, als wäre der Tatort für ein Publikum hergerichtet worden. Der Putzwagen, immer noch mit Wasser gefüllt, stand bedrohlich im Zentrum, die Räder eingerastet.

„Sie sagten, der Todeszeitpunkt war gestern am späten Abend?“, fragte Flynn. „Wieso hielt sich das Opfer so spät abends noch hier auf? Meines Wissens war sie hier als Astronomin angestellt – und die haben doch normalerweise geregelte Arbeitszeiten, oder nicht?“

„Nein, die Arbeitszeiten variieren hier“, sagte Sheriff Petrovski. „Ms. Vega hat die Flugbahn eines Kometen untersucht, indem sie ihn mithilfe der Teleskope beobachtet und sich dazu Notizen gemacht hat. Wir wissen, dass sie ihre Beobachtungen am gestrigen Abend normal abgeschlossen hat – das war den Notizbüchern auf ihrem Schreibtisch zu entnehmen. Einer ihrer Kollegen hat uns das bestätigt. Es sieht ganz so aus, als hätte sie gerade Feierabend gemacht und war auf dem Heimweg, als es passiert ist.“

Zoe stand genau über dem Putzwagen und sah sich alles genau an. Es gab hier nicht gerade viele Beweismittel, aber ihr geschulter Blick suchte nach der Linse eines Projektors oben in der Luft. Aus ihrer Position und dem Winkel, in dem sie ausgerichtet war, konnte sie schließen, dass der ganze vordere Bereich des Saales von der Projektion erfasst worden sein musste – Licht musste dem Opfer genau ins Gesicht gestrahlt haben und lauter Surround-Sound von mehreren Punkten in der Decke aus Lautsprechern geschallt haben.

Die Winkel ergaben Sinn. Sie stellte sich vor, wie eine Frau den Raum durchquerte – von der Tür, die zu den Büros führte, geradewegs in Richtung Hauptausgang. Sie war auf dem Heimweg. Dann ging der Projektor an und betäubte ihre Sinne, machte sie einen Moment lang taub und blind. Der Putzwagen wurde auf seinen Rädern in den Raum geschoben und der Täter drückte ihren Kopf so lang unter Wasser, bis sie ertrank. Es war nicht besonders schwer, zu dieser Interpretation zu gelangen.

Aber damit wusste sie noch nicht alles, was sie wissen musste – noch nicht. Sie konnte daraus noch nicht erschließen, wie groß der Mörder war, denn er musste das Opfer nur niederschlagen und dann den Kopf ins Wasser drücken, um den Mord begehen zu können. Kraft spielte dabei also eine gewisse Rolle – die Kraft, die man brauchte, um einen erwachsenen Menschen festhalten zu können, der um sein Leben kämpfte. Das war nicht zu vernachlässigen. Der Täter musste kräftig genug sein, um das schaffen zu können.

Zwar wurden Gewaltverbrechen fast immer von Männern begangen, doch ehrlich gesagt konnte Zoe nicht einmal konkrete Beweise dafür erkennen, ob diese Tat von einem Mann oder von einer Frau begangen worden war. Sie tendierte allerdings dazu, in solchen Fällen von einem männlichen Täter auszugehen, einfach weil man damit in der Regel richtig lag – die Statistiken waren da immer hilfreich.

Aber darГјber hinaus konnte sie an diesem Tatort nichts weiter ablesen.

Zoe sah von dem Putzwagen auf und ging zurück zu Sheriff Petrovski, um Flynn Gelegenheit zu geben, seine eigenen Beobachtungen anzustellen. „Haben Sie irgendwelche Beweismittel sicherstellen können?“, fragte sie.

„Abgesehen von der Leiche?“, Sheriff Petrovski sah sie belustigt an. „Nein. Keinerlei Fingerabdrücke, die wurden wohl alle weggewischt. Oder vielleicht trug der Täter Handschuhe – schwer zu sagen, insbesondere weil hier ja sogar Reinigungsmittel für die Tat verwendet wurden. Keine Fasern, Haare, nichts, was wir hätten einsammeln können. Im Prinzip war es hier blitzsauber.“

„Das ist unpraktisch.“ Zoe seufzte. Es war immer einfacher, wenn eindeutige Beweismittel vorlagen. Wenn man bloß die richtige Person finden und deren Fingerabdrücke nehmen musste – und den Fall noch rechtzeitig vor dem Abendessen wieder abschließen konnte. Aber das war heute ja schon gar nicht mehr möglich. Die Zeit zum Abendessen war schon längst vergangen.

„Also“, sagte Flynn, nachdem er aus der Hocke aufgestanden war, die es ihm ermöglicht hatte, sich den Putzwagen genauer anzusehen. „Ich denke, es ist eindeutig, womit wir es hier zu tun haben.“

„Ist das so?“, sagte Zoe gleichmütig.

Flynn kam wieder zu ihnen zurück und klopfte sich dabei den Staub von den Händen. „Es handelt sich um irgendeinen Verrückten, der Gelegenheitsverbrechen begeht. Er muss zufällig irgendeine Möglichkeit gehabt haben, sich Zugang zum Planetarium zu verschaffen, das wird uns dabei helfen, die Suche weiter einzugrenzen. Aber er hält offensichtlich immer dann nach Frauen Ausschau, wenn niemand in der Nähe ist, der ihn aufhalten könnte. Das war bei dem Opfer am Fluss ebenfalls der Fall – vielleicht geht er selbst gern wandern, oder er kommt aus der Gegend und kennt sich deshalb gut hier aus. Jedenfalls war er ungestört, niemand hätte ihn aufhalten können, das hat einen Schalter in ihm umgelegt und er hat die Gelegenheit genutzt.“

„Wie aufschlussreich“, kommentierte Zoe trocken. Sie glaubte kein Wort davon. Das Eingravieren eines Symbols in das Fleisch der Opfer war keine spontane Handlung – daran zeigte sich, dass der Täter überlegt vorging und möglicherweise sogar vorausgeplant hatte. Das war also nicht irgendein Verrückter. Zumindest, wenn man nicht davon ausging, dass jeder Mörder zwangsläufig ein Verrückter sein musste. Hier war jemand zielstrebig vorgegangen und hatte außerdem eine Art Botschaft hinterlassen.

Zoe hatte es schlieГџlich nicht zum ersten Mal mit einem solchen Fall. Laut Maitland war das ja auch der Grund dafГјr gewesen, dass er sie fГјr diesen Fall ausgesucht hatte.

„Ich würde gern die Leichen sehen“, fuhr sie fort. „Insbesondere die Symbole, die in die Haut eingraviert worden sind. Ich denke es lohnt sich, das genauer unter die Lupe zu nehmen.“

Sie spürte förmlich, wie Flynn neben ihr steif wurde, wie die von seinem Rücken und seinen Schultern gezeichneten Linien gerader wurden. Ihm gefiel ihre Entscheidung nicht. Aber das war in Ordnung. Denn sie war nicht hier, um Freundschaften zu schließen – sie war hier, um einen Mörder zu schnappen.

„Jetzt gleich?“, fragte Sheriff Petrovski, in ihrer Stimme war ein Hauch von Enttäuschung zu hören.

Zoe nickte energisch. „Das wäre mir am liebsten, ja.“

Sie wollte nicht unnötig abwarten – nicht, solange dort draußen ein Mörder unterwegs war, der sich womöglich schon auf seine nächste Tat vorbereitete.




KAPITEL SIEBEN


Das Labor des Gerichtsmediziners war auch normalerweise nicht das wärmste Gebäude, das man auf der Suche nach Gerechtigkeit betreten konnte, aber an diesem kalten Novemberabend war es noch kälter als gewohnt. Zoe zitterte leicht und zog ihre FBI-Windjacke ein wenig enger zu. Morgen, nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hatte , würde sie sich wärmer anziehen.

Die zwei Leichen lagen auf Metallpritschen in der Mitte des Raumes, daneben eine dritte Pritsche, die noch leer war. Das Bild fГјhrte einem eindrucksvoll vor Augen, um wie viel es hier ging, denn aus zwei Leichen konnten schnell drei werden, wenn sie in ihren Ermittlungen nicht zГјgig vorankamen.

Zoe blendete die Geräuschkulisse von Flynns Gespräch mit dem Gerichtsmediziner, einem kleinen, asiatischen Mann mit schütter werdendem Haar, so weit es ging aus. Sie rechnete nicht damit, dass der Mann ihr irgendetwas sagen konnte, das sie nicht schon den Zahlen entnommen hatte; sie hatte das Blutbild, deren Analyse und alle weiteren Testergebnisse für das erste Opfer bereits gesehen und wusste daher, dass sich daraus nichts Ungewöhnliches ergeben hatte. Das würde bei der zweiten Leiche nicht anders sein. Im Bericht des Gerichtsmediziners gab es nichts, das sie zu ihrem Täter führen konnte – abgesehen von seinem Markenzeichen.

Zoe näherte sich der ersten Leiche und entfernte das Laken, von dem der Körper abgedeckt wurde, um sich das in das Fleisch geritzte Symbol ansehen zu können. Sie beugte sich ganz nah heran, dadurch konnte sie alles sehen: die siebeneinhalb Zentimeter lange gerade obere Linie, mit zwei davon nach unten abgehenden Linien, jeweils sechseinhalb und sieben Zentimeter lang. Letztere waren ebenfalls gerade, auch wenn sie weder rechtwinklig von der oberen Linie abgingen noch parallel zueinander verliefen. Sie hatten leicht aus dem Lot geratene Winkel, eher um die hundert Grad als neunzig. Vielleicht war es die Arbeit einer unsteten Hand, unfähig die Linien präzise zu ritzen.

Zoe ging zur zweiten Leiche weiter, zur Astronomin. Das Symbol war das gleiche. Sie las die Zahlen aufmerksam: ein siebeneinhalb Zentimeter langer Deckel, davon abgehend zwei Beine in 100-Grad-Winkeln in entgegengesetzte Richtungen geneigt, beide zwischen sechseinhalb und sieben Zentimeter lang.

Es war von gleicher Hand gezeichnet. Sie konnte alles erkennen: die Richtung, mit der der Schnitt in die Haut gezeichnet worden war, die dafür eingesetzte Kraft, sogar die verräterischen Spuren des benutzten Werkzeugs. Alles passte zusammen. Beide Zeichen waren von der gleichen Hand geschnitten worden. Es war kein Zufall, keine Nachahmung, auch kein Kult. Es war das Werk eines Mannes – eines Mannes, der im wahrsten Sinne des Wortes versuchte, ein Zeichen zu setzen.

Zoe drückte ihren Rücken durch, denn der beschwerte sich merklich darüber, dass es schon so spät war und Zoe so einen langen Tag gehabt hatte. Nach dem, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte, brauchte sie eigentlich Ruhe – aber darauf würde sie noch warten müssen. Der Fall war um einiges wichtiger.

„Die Schnitte wurden von derselben Hand vorgenommen“, sagte sie, als sie feststellte, dass sich Flynn und der Gerichtsmediziner nicht mehr unterhielten. „Damit können wir ausschließen, dass mehrere Täter – oder gar eine Sekte – für die Tat verantwortlich sind. Das Symbol mag trotzdem eine ritualhafte Bedeutung für den Täter haben, aber es wurde in beiden Fällen von der gleichen Person angefertigt.“

Flynn zuckte mit den Schultern. „Ergibt Sinn. Das bringt uns aber immer noch nicht sonderlich viel weiter. Insbesondere, falls der Täter das Symbol nur benutzt, um uns in die Irre zu führen.“

Zoe schüttelte den Kopf. „Das halte ich für unwahrscheinlich. Es handelt sich um vorsätzliches Vorgehen. Der Mörder folgt bestimmten Prinzipien – die ihm logisch erscheinen, selbst wenn uns das nicht so gehen würde. Ich gehe davon aus, dass er seine Opfer bewusst mit dem Symbol für die Zahl Pi markiert.“

Falls Zoe davon ausging, dass Flynn nach ihrer Erklärung ein Licht aufgehen oder er ihr gar applaudieren würde, dann lag sie damit voll und ganz falsch. „Pi?“, schnaubte Flynn. „Das ist doch jetzt etwas weit hergeholt, oder nicht?“

Zoe zuckte zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr so deutlich widersprechen würde – schon gar nicht in Anwesenheit einer anderen Person. „Ein oberer Balken mit zwei gleichen Beinen, die in einem Winkel davon abgehen – sieht für mich aus wie ein Pi.“

Flynn beugte sich über die Leiche, der er am nächsten war, und schüttelte beim Anblick des Symbols den Kopf. „Na ja, dabei könnte es sich um das Symbol für Pi handeln. Aber es könnte auch irgendetwas anderes sein. Sehen Sie doch mal, wie grob und überhastet die Schnitte angefertigt worden sind. Könnte sogar sein, dass die Winkel keine Absicht waren.“

Zoe verzog wütend das Gesicht. Dieser Neue – für wen hielt der sich eigentlich? Sie sah bewusst nicht zu dem Gerichtsmediziner, denn sie wusste, dass man ihr den blanken Zorn von den Augen ablesen konnte. Sie war noch nie besonders gut darin gewesen, das zu verstecken. „Wofür soll es denn sonst stehen?“, sagte sie verärgert.

Flynn deutete in Richtung des Symbols und zog mit seinen Fingern unsichtbare Linien darüber in die Luft. „Es könnte sich um Initialen handeln. Zwei große Ts, direkt nebeneinander. Vielleicht der Name des Täters – buchstäblich eine Signatur. Oder ein Hinweis auf einen anderen Namen. Oder es ist das Zeichen, das in der Justiz als Abkürzung für den Kläger verwendet wird – vielleicht ist der Täter mit dem Justizsystem unzufrieden und möchte das zum Ausdruck bringen.“

Zoe merkte, wie ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet. Wenn sie tatsächlich nur ein mathematisches Element in dem Fall erkannt hatte, weil das dem entsprach, was sie sehen wollte, dann wäre ihr das jedenfalls nicht zum ersten Mal passiert. Sie hatte auch in der Vergangenheit bereits bestimmte Dinge falsch interpretiert. Und damit nicht nur Zeit und Ressourcen verschwendet, sondern außerdem dem Täter erlaubt, weitere Menschen zu ermorden, bevor sie schließlich auf die richtigen Spur gekommen waren und ihn geschnappt hatten.

Aber auch in diesen Fällen hatte sie nie weit daneben gelegen. Sie konnte sich auf ihren Instinkt verlassen, das wusste sie. Was dachte er sich bloß dabei, ihr sagen zu wollen, dass sie falsch lag? Welche praktische Erfahrungen konnt er denn vorweisen, mit der er diese Einschätzung begründen konnte? Zoe ballte ihre Hände zu Fäusten und spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen gruben. Sie tat dies, um einen Teil ihres Frusts abzubauen, bevor sie ihn vollständig an ihm auslassen konnte.

„Ich sehe das Symbol für die Zahl Pi“, sagte sie beharrlich. „Ich habe in der Vergangenheit bereits in ähnlichen Fällen ermittelt. Fälle, in denen die Täter von bestimmten Zahlen und Konzepten besessen waren. Ich habe dabei mitgewirkt, den Goldener-Schnitt-Mörder zu Fall zu bringen.“

„Deswegen ist noch lange nicht jeder Täter gleich“, argumentierte Flynn. „Davon abgesehen, selbst wenn es sich um Pi handeln sollte, wie bringt uns das denn überhaupt weiter? Inwiefern ist das eine nützliche Spur? Das sagt uns doch nichts darüber, wo wir nach dem Täter suchen müssen.“

„Es könnte uns dabei helfen, die Gruppe der möglichen Verdächtigen einzugrenzen“, sagte Zoe. Sie wusste, dass sein Einwand nicht ganz unbegründet gewesen war, aber sie wollte ihn die Diskussion nicht gewinnen lassen. Ganz im Gegenteil. Sie würde ihre Sichtweise so lange verteidigen, wie es nötig war – bis er sich wieder daran erinnerte, wer hier die ranghöchste Ermittlerin war. Was bildet er sich nur dabei ein, ihre Argumente so von der Hand zu weisen?

„Wir können keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte Flynn mit einer gewissen Verzweiflung in der Stimme. Er gestikulierte dabei wild mit den Händen, Zoe verfolgte die Bewegungen der Hände in der Luft ganz genau und berechnete dabei ihre Geschwindigkeit, die Winkel, das Muster, das sie in die Luft zeichneten. „Hören Sie, Pi kann in der Strömungslehre für bestimmte Spannungstensoren stehen. Heißt das, wir sollen jetzt nur noch Physiker als Verdächtige verhören?“




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